Wollt ihr den totalen Markt? – Eine Kritik des Neoliberalismus

Wir schreiben das Jahr 2018. Im letzten Jahr hat Deutschland gewählt: Zum ersten Mal seit Ende der 1950er Jahre sitzt im Deutschen Bundestag mit der AfD eine Fraktion, deren intellektuelle Vordenker liberaldemokratische Werte durchweg ablehnen. Die politischen Mitbewerber um die Gunst der Wähler*innen sind seitdem auf der Suche nach einem Konzept, um einen nachhaltigen Erfolg der AfD zu verhindern, der insbesondere aus der Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile mit der etablierten Politik resultiert. Allem voran beschwört die SPD (aber auch die CDU) einen personellen und inhaltlichen Neuanfang, eine parteipolitische Rundumerneuerung. Unter den Twitter-Hashtags #SPDerneuern, #PlattformPRO und #Sozialstart sammelt sich derzeit eine Bewegung, die einen progressiven Aufbruch der SPD fordert. Dazu ist insbesondere eine systematische Aufarbeitung der neoliberalen Reformpolitik der letzten Jahrzehnte geboten. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre ist diesbezüglich aber durchaus Anlass für Skepsis. Worum geht es mir im Einzelnen?

Geringe soziale Mobilität von Unten nach Oben

Die AfD wird von vielen unzufriedenen Protestwähler*innen als Ventil angesehen, um dem eigenen Ärger über die etablierten Parteien Luft zu machen. Dabei scheuen sich die Rechtspopulisten auch nicht davor, Arm gegen Arm auszuspielen – wie jüngst bei den Vorfällen um die Essener Tafel. Das Ziel der Tafel-Organisationen ist es, überschüssige aber verzehrfähige Lebensmittel im Handel und bei Herstellern einzusammeln und diese unentgeltlich oder zu einem symbolischen Beitrag an bedürftige Menschen zu verteilen.

Im Hinblick auf die aktuellen Vorfälle liegt der eigentliche Skandal nicht etwa – wie im medialen Diskurs vornehmlich rezipiert – in den angeblich schlechten Umgangsformen einzelner Bevölkerungsgruppen oder an der unklugen Reaktion der lokalen Tafel-Betreiber*innen. Ungemein gefährlicher ist vielmehr die soziale Kluft, die sich einem angeblich so wohlhabenden Staat wie der Bundesrepublik Deutschland gebildet hat. Die Anzahl der Tafeln zur Versorgung von Bedürftigen ist in den letzten Jahren deutlich angewachsen: Gemeinnützige Hilfsorganisationen gehören mittlerweile zum Stadtbild von vielen Kommunen, im Jahr 2016 wurden 925 Tafeln in ganz Deutschland gezählt. Steht das Phänomen der Tafel nicht vielmehr stellvertretend für den Rückzug des Staates aus der sozialen Daseinsfürsorge? Werden durch die Tafeln nicht die Unterschiede zwischen „Sozial oben“ und „Sozial unten“ – sicherlich von den Organisatoren vor Ort unintendiert – zementiert und damit eine Segmentierung der Gesellschaft festgeschrieben, anstatt Armut auch nachhaltig zu bekämpfen?1SELKE, Stefan, Fast ganz unten: Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird, 2009, S. 213.

Die AfD spielt Arm gegen Arm aus.

Der Neoliberalismus als Ideologie

Begeben wir uns auf einen Zeitsprung zurück in den Herbst des Jahres 1982. In Bonn regiert seit der Bundestagswahl 1980 eine sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt. Es handelt sich mittlerweile um die dritte Koalition der Sozialdemokratie mit der FDP. Doch regierungsintern sorgt eine wirtschaftspolitische Handschrift unter der Federführung von Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) für Unruhe. Im sog. Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (kurz: Scheidepapier) fordern die Verfasser eine Konsolidierung des Haushalts, die Schaffung von Anreizen zu arbeitsplatzfördernden Investitionen, die Eindämmung der explodierenden Sozialstaatskosten sowie eine Deregulierung und Privatisierung nach Innen und Außen, und griffen insoweit den wirtschaftspolitischen Kurswechsel in Großbritannien und den USA unter Margaret Thatcher und Ronald Reagan auf. Hinter diesem Konzept steht eine Sozialstaatsphilosophie, welche die gesamte Gesellschaft nach dem Modell von Markt und Leistungskonkurrenz umgestalten will, wobei ihr der Wettbewerb zwischen arbeitenden Menschen, Unternehmen, Regionen und Nationen – kurz Wirtschaftsstandorten – als Wundermittel zur Lösung jeglicher Probleme erscheint:2BUTTERWEGGE, Christoph, Marktradikalismus und Rechtsextremismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, 2008, S. 203. Als konkrete Maßnahmen listete das Lambsdorff-Papier von einer zeitlichen Begrenzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes über die Einführung eines „demografischen Faktors“ zur Beschränkung der Rentenhöhe bis zur stärkeren Selbstbeteiligung bei Arztbesuchen („Praxis-Gebühr“) schon im Jahre 1982 fast alle Maßnahmen zur Regulierung des Sozialstaats auf, die nachfolgende Bundesregierungen verwirklichen sollten.

Doch zurück zum Scheidepapier: Der sich darauf entwickelnde Streit über den Bundeshaushalt führte schließlich zum Bruch der sozialliberalen Koalition, der in einem Misstrauensvotum im Jahr 1982 seinen Ausdruck fand. Die darauffolgende christlich-liberale Koalition aus CDU/CSU und FDP macht sich die Strukturkrise der westlichen Industriestaaten zunutze, um einen Kausalzusammenhang zwischen Staatstätigkeit und ökonomischer Krise zu behaupten. Die Angriffe reichten von einer Kritik an der ausufernden Bürokratie und der mangelnden Effizienz staatlicher Aktivitäten über den Vorwurf der systematischen öffentlichen Verschwendung bis zur These von den fehlenden Leistungsanreizen eines angeblich überversorgenden Wohlfahrtsstaates.3PTAK, Rolf, Grundlagen des Neoliberalismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Kritik des Neoliberalismus, 2008, S. 69. Zwar hatte der Staat auch zuvor schon die Feinsteuerung komplexer ökonomischer Systeme übernommen und im Falle des Marktversagens interveniert, nunmehr rückten aber seine Steuerungsdefizite in den Mittelpunkt.4ENGARTNER, Tim, Privatisierung und Liberalisierung – Strategien zur Selbstentmachtung des öffentlichen Sektors, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, 2008, S. 87.

Die steigende Arbeitslosigkeit etwa galt damals als Ergebnis einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik und beschleunigte die Erosion des ehemals keynesianischen Grundkonsenses der Bundesrepublik. Der Sicherheits- und Vorsorgestaat trat zunehmend zugunsten der „Freiheit“ und „Selbstverantwortung der Bürger*innen“ in den Hintergrund. Erklärtes Ziel war es folglich, das Zusammenwirken von Staat und Wirtschaft in nahezu sämtlichen Sektoren aufzulösen. Diese damals neue, am Profit orientierte Ausrichtung von staatlichem Handeln wurde mit der Notwendigkeit begründet, die Effizienz der Verwaltung zu steigern, Synergieeffekte zu erzielen und Organisationsstrukturen zu verschlanken. Ausgeblendet wird seither freilich, dass öffentliche Güter und Dienstleistung zentrale Zielbereiche der Wirtschafts- und Sozialpolitik betreffen: die Sicherung von Beschäftigung, die Stabilisierung der Wirtschaftsentwicklung, die Gewährleistung von Versorgungssicherheit und die Begrenzung sozialer Ungleichheiten.

Der Bruch mit klassisch-sozialdemokratischen Ideen

Die von der SPD geführte Bundesregierung unter Gerhard Schröder machte sich Anfang des neuen Jahrhunderts schließlich daran, den Umbau vom aktiven zum aktivierenden Sozialstaat zu vollenden. Dieser grundlegende Paradigmenwechsel weist „Eigenverantwortung“, „Selbstversorgung“ und „Privatinitiative“ eine Schlüsselrolle zu. Die Neujustierung des Verhältnisses von Individuum und Staat behandelt folglich die Frage, ob Letzter die Menschen als mündige Bürger*innen oder Kund*innen behandelt. Schon der Begriff der „aktivierenden Arbeitsmarktpolitik“ diffamiert Erwerbslose pauschal als zu passiv, denn sonst könnten und müssten sie ja nicht durch geeignete Maßnahmen aktiviert werden.

Zwar werden die Agenda-Reformen in der öffentlichen Wahrnehmung als Erfolg betrachtet. So ging die Zahl der Arbeitslosen tatsächlich zurück. Dies ist aber in der Hauptsache auf einen anhaltenden Konjunkturaufschwung sowie kosmetische Änderungen der Arbeitslosenstatistik zurückzuführen. Vielmehr bedeutete beispielsweise einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II Einkommenseinbußen für mehr als die Hälfte der Betroffenen. Etwa ein Drittel wurde durch die Reform finanziell bessergestellt – die Armutsquote der Leistungsempfänger*innen erhöhte sich dagegen auf zwei Drittel. Die Regelsätze zum Arbeitslosengeld II waren bis 2010 sogar auf einem solch niedrigen Niveau festgeschrieben, dass sich der Gesetzgeber eine Rüge des Bundesverfassungsgerichts aufgrund eines Verstoßes gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. I GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. I GG einhandelte.

Die Erwerbslosenzahlen im März 2018 | © Fraktion DIE LINKE

Für die komplette Abkehr von keynesianistischen Instrumenten der Wirtschaftspolitik steht sinnbildlich die Maxime des ausgeglichenen Haushaltes („Schwarze Null“), die trotz Investitionsstau in den Bereichen Energie, Infrastruktur, Wohnungsbau, Digitalisierung, Bildung u.w. über nahezu jeder aktuellen politischen Diskussion schwebt. Ja, wir müssen es angehen – aber zu viel kosten darf es nicht. Nebenbei kam es im Zuge der Euro- und Finanzkrise zu einer von Deutschland vorangetriebenen restriktiven Austeritätspolitik, die insbesondere südeuropäische Staaten vor enorme finanzpolitische Schwierigkeiten stellte und in der Folge zur Spaltung der Europäischen Union beitrug.

Mittelbare Auswirkungen des Neoliberalismus

Neben seinem Einfluss auf das konkrete politische Handeln wirkt sich der neoliberale Zeitgeist jedoch vor allem auch im sozialen Miteinander aus. Sozialer Zusammenhalt wurde zum betriebswirtschaftlichen Kostenfaktor erklärt –  Werte wie Solidarität, eine mögliche positive Rolle des Staates oder ein Freiheitsbegriff, der über eine schlichte egoistische Selbstverwirklichung hinausgeht, wurden systematisch vernichtet und damit die bisherigen Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen auf den Kopf gestellt. Aus dem „sozialen Netz“ wurde die „soziale Hängematte“ (Wolfgang Schäuble, CDU), statt von Arbeitslosigkeit zu sprechen, machte der der „kollektive Freizeitpark“ (Helmut Kohl, CDU) die Runde. Der Sozialstaat leide überdies sowieso unter „spätrömischer Dekadenz“ (Guido Westerwelle, FDP).

Dieser Paradigmenwechsel in der intrasozialen Kommunikation traf die Schwächsten der Gesellschaft am härtesten.5LÖSCH, Bettina, Die neoliberale Hegemonie als Gefahr für die Demokratie, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Kritik des Neoliberalismus, 2008, S. 225. Die Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II werden vorsorglich in ihrer Gesamtheit unter Generalverdacht gestellt: „Selbst Schuld – sollen sie halt arbeiten gehen oder dorthin ziehen, wo es Arbeit gibt.“ Nicht ohne Grund ist der Ausdruck „Hartz IV-Fernsehen“ als Sammelbegriff für dumpfe Reality TV-Formate im Privatfernsehen weit verbreitet. Diese elitäre Überheblichkeit gegenüber sozial Schwachen unterstellt Sozialleistungsbezieher*innen pauschal eine „Mitnahme-Mentalität“. Wolfgang Clement (FDP, damals SPD) witterte „massiven Sozialbetrug“. Sein Ministerium konstatierte: „Biologen verwenden für ‚Organismen, die auf Kosten anderer Leben‘ übereinstimmend die Bezeichnung ‚Parasiten‘.“ Entsprechende Lösungsvorschläge reichen von verpflichtenden, achtstündigen Gemeinschaftsdienst von Montag bis Freitag für alle arbeitsfähigen Langzeitarbeitslosen (Stefan Müller, CSU) bis zur Forderungen nach einem doppelten Stimmrecht für Werktätige (Gottfried Ludewig, CDU). Franz Müntefering (SPD) dagegen zitierte beflissen aus der Bibel: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck riet einem obdachlosen Hartz IV-Bezieher: „Wenn sie sich waschen und rasieren, finden Sie auch einen Job.“ Claudia Hämmerling (Grüne) dagegen schlug im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur vor, Empfänger von Arbeitslosengeld II zum Aufsammeln von Hundekot zu verdonnern. Peter Tauber (CDU) teilte einem Twitter-Nutzer mit: „Hätten sie etwas Ordentliches gelernt, bräuchten sie keine drei Minijobs.“ Den vorläufig letzte Beitrag in diesem Diskurs liefert der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU): „Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist aktive Armutsbekämpfung.“ Das Treten nach Unten gehört mittlerweile also zum guten Ton.

Wie sehr uns neoliberales Denken beeinflusst, wird insbesondere bei der Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen ersichtlich. Die Motive der Befürworter*innen sind vielfältig: Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II hoffen, dem Schraubstockgriff der Sozialstaats-Bürokratie zu entkommen. Vom patriachalen Wohlfahrtsstaat enttäuschte Frauen hingegen möchten sich mit dem bedingungslosen Grundeinkommen vom finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren (Ehe-)Partnern lösen. Grün-alternative und linksradikale Theoretiker möchten dagegen den Wohlfahrtsstaat weiterentwickeln, um ihn an die veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen einer postindustriellen Gesellschaft mit Massenarbeitslosigkeit, Verarmungstendenzen und prekären Beschäftigungsverhältnissen anzupassen.6BUTTERWEGGE, Christoph, Grundlagen des Neoliberalismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Kritik des Neoliberalismus, 2008, S. 180. Diese durchaus nachvollziehbaren Motive vernachlässigen allerdings, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen – vom neoliberalen Vordenker Milton Friedman unter dem Titel negative Einkommenssteuer als Maßnahme zur Armutsbekämpfung favorisiert7FRIEDMAN, Milton, Kapitalismus und Freiheit, 1984, S. 245 f. – würde dem klassischen Wohlfahrtsstaat den Todesstoß versetzen. Die Konsequenz wäre, dass fast alle bisherigen staatlichen Transferleistungen in dem bedingungslosen Grundeinkommen aufgehen würden, für einen Sozialstaat im Sinne eines sozialen Ausgleichs bliebe kein Raum mehr.

Der Neoliberalismus und die Neuen Rechten

Die beschriebene neoliberale Hegemonie bestärkt nicht nur die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, sondern ist zugleich auch eine Gefahr für die Demokratie. Die Ausrichtung aller gesellschaftlicher Kernbereiche an ökonomischen Prinzipien bietet wenig Raum für eine Politik, die sich an ethischen Prinzipien orientiert. Auch können Märkte zwar die Aufgabe der Ressourcenallokation übernehmen, sie sind jedoch keine moralischen Institutionen, die ethischen Maximen gehorchen. Der beschriebene soziale Druck wirkt sich nicht nur auf die direkt betroffenen Gesellschaftsgruppen aus. Auch die nunmehr verunsicherte Mittelschicht wird in den Strudel der Angst vor dem sozialen Abstieg gerissen.8BUTTERWEGGE, Christoph, Marktradikalismus und Rechtsextremismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, 2008, S. 212. Durch die Marktradikalisierung der Gesellschaft wurde ein sozialer Nährboden gelegt, in dem die AfD mit sozialdarwinistischen, völkischen und nationalistischen Attitüden auf Wählerfang gehen kann. Diesen antiliberalen Positionen kommt dabei zu Gute, dass neoliberales Denken nicht nur die Wettbewerbssituation zwischen Wirtschaftsstandorten und -subjekten verschärft, sondern auch zu einer sozialen Polarisierung führt.9BUTTERWEGGE, Christoph, Marktradikalismus und Rechtsextremismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, 2008, S. 215. Dies drückt sich insbesondere in einer Prekarisierung der Arbeit, also die Zunahme von geringfügiger Beschäftigung, in der auch im europäischen Vergleich dramatischen Vermögensungleichheit in Deutschland sowie in einer (eindeutigen oder verdeckten) Pauperisierung großer Bevölkerungsschichten bei gleichzeitiger Explosion von Unternehmensgewinnen und Kapitalerträgen aus.10BUTTERWEGGE, Christoph, Marktradikalismus und Rechtsextremismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, 2008, S. 209. Hinzu gesellt sich ein Gefühl der Ohnmacht, wenn beispielsweise aus den Dörfern aufgrund ökonomischer Zwänge die vormals staatlichen Einrichtungen wie Postämter, Bahnhöfe und Krankenhäuser verschwinden.

Verbindet man die theoretischen Grundlagen, ist der Weg vom Neoliberalismus zum Rechtsextremismus gar nicht mehr weit.11SCHUI, Herbert, Rechtsextremismus und totaler Markt. Auf der Suche nach gesellschaftlicher Klebmasse für den entfesselten Kapitalismus, in: BATHKE, Peter; SPINDLER, Susanne (Hrsg.), Neoliberalismus und Rechtsextremismus in Europa. Zusammenhänge – Widersprüche – Gegenstrategien, 2006, S. 48 ff. Nicht nur der Rechtsextremismus will hinter die liberaldemokratischen Errungenschaften der Französischen Revolution zurück, auch die Ideologie des radikalen Marktes entmündigt das Individuum, indem er es auf seinen Status als „homo oeconomicus“ beschränkt. Zwischen Pauperisierung und Rassismus besteht ein direkter Zusammenhang:12BUTTERWEGGE, Christoph, Marktradikalismus und Rechtsextremismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, 2008, S. 214. Wenn die Verteilungsspielräume in der Gesellschaft so verengt werden, dass der soziale Ausgleich nicht mehr realisiert wird, dann steigt allgemein die Tendenz zu Ausgrenzung und Chauvinismus. Diese Entwicklung kann nur aufhalten, wer mit einer anderen Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik eine glaubwürdige Alternative zum Neoliberalismus entwickelt. Die Aufgabe progressiver Politik muss dabei sein, das Fördern wieder mehr in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte zu rücken. Das übereifrige Bekenntnis des neuen SPD-Finanzministers Olaf Scholz zur „schwarzen Null“ steht dabei eher für erneutes Versagen als für Erneuerung. Aber ich bin überhaupt gespannt, wie die SPD das Dilemma zwischen Erneuerungsagenda und Regierungspolitik in dieser Legislatur lösen möchte. Die Sozialdemokrat*innen müssen sich nun entscheiden: Which Side Are You On?

Referenzen

Referenzen
1 SELKE, Stefan, Fast ganz unten: Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird, 2009, S. 213.
2 BUTTERWEGGE, Christoph, Marktradikalismus und Rechtsextremismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, 2008, S. 203.
3 PTAK, Rolf, Grundlagen des Neoliberalismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Kritik des Neoliberalismus, 2008, S. 69.
4 ENGARTNER, Tim, Privatisierung und Liberalisierung – Strategien zur Selbstentmachtung des öffentlichen Sektors, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, 2008, S. 87.
5 LÖSCH, Bettina, Die neoliberale Hegemonie als Gefahr für die Demokratie, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Kritik des Neoliberalismus, 2008, S. 225.
6 BUTTERWEGGE, Christoph, Grundlagen des Neoliberalismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Kritik des Neoliberalismus, 2008, S. 180.
7 FRIEDMAN, Milton, Kapitalismus und Freiheit, 1984, S. 245 f.
8 BUTTERWEGGE, Christoph, Marktradikalismus und Rechtsextremismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, 2008, S. 212.
9 BUTTERWEGGE, Christoph, Marktradikalismus und Rechtsextremismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, 2008, S. 215.
10 BUTTERWEGGE, Christoph, Marktradikalismus und Rechtsextremismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, 2008, S. 209.
11 SCHUI, Herbert, Rechtsextremismus und totaler Markt. Auf der Suche nach gesellschaftlicher Klebmasse für den entfesselten Kapitalismus, in: BATHKE, Peter; SPINDLER, Susanne (Hrsg.), Neoliberalismus und Rechtsextremismus in Europa. Zusammenhänge – Widersprüche – Gegenstrategien, 2006, S. 48 ff.
12 BUTTERWEGGE, Christoph, Marktradikalismus und Rechtsextremismus, in: BUTTERWEGGE, Christoph; LÖSCH, Bettina; PTAK, Rolf (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, 2008, S. 214.

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