Mein Austritt aus der SPD

Seit November 2009 war ich Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die SPD war nach meiner Wahrnehmung eine „linke Volkspartei“, die sich solidarisch den Interessen der Arbeiter und Arbeitnehmer, Minderheiten und den sozial schwachen Teilen der Bevölkerung verschrieben hat. In meinen Augen verfolgte sie überdies eine pragmatische, bisweilen auch kritische Außen- und Sicherheitspolitik, die im Sinne der Entspannungspolitik Willy Brandts einen Ausgleich zwischen den gegensätzlichen Interessen von Ost und West suchte. Mit diesen Positionen wähnte ich mich in Übereinstimmung mit dem heute noch gültigen Grundsatzprogramm, dem „Hamburger Programm“ aus dem Jahre 2007.

Doch nach nahezu fünfzehn Jahren muss ich bedauerlicherweise feststellen, dass die SPD diese Erwartungen nicht erfüllt. Nach reiflicher Überlegung und intensiver Auseinandersetzung mit den politischen Entwicklungen der letzten Zeit möchte ich deshalb zum heutigen Tage meinen Austritt erklären. Im Folgenden möchte ich etwas ausführlicher darlegen, welche Gründe mich zu diesem Schritt bewogen haben.

I.

Mit großer Sorge beobachte ich, dass die SPD immer stärker an Unterstützung in der Bevölkerung verliert. Die Partei hat in den letzten Jahren mehrere Landtagswahlen verloren und bei der Bundestagswahl 2021 ihr historisch schlechtestes Ergebnis eingefahren. Zwar führte die Kanzlerschaft von Olaf Scholz kurzzeitig zu einem innerparteilichen Stimmungsaufschwung, die eigentlichen Ursachen und Gründe für die elektorale Schwäche der Partei sind jedoch weiterhin vorhanden.

Zu einem großen Teil lässt sich diese Schwäche weiterhin auf die Orientierung der SPD am neoliberalen Wirtschaftsmodell zurückführen. Unter der Führung von Gerhard Schröder wurde ein umfangreiches Reformprogramm umgesetzt, das als „Agenda 2010“ bekannt ist und zu einer Deregulierung des Arbeitsmarktes, einer Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse und einer Verschärfung der Bedingungen für den Bezug von Arbeitslosengeld II (Hartz IV/Bürgergeld) führte. Olaf Scholz und Frank-Walter Steinmeier haben sogar aktiv an der Umsetzung dieser Reformen mitgewirkt und sich wiederholt für eine Fortführung dieser Politik ausgesprochen. Die mangelnde Abgrenzung zu neoliberalen Ideen führt dazu, dass die SPD in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin als Partei der ominösen Mitte wahrgenommen und von vielen Wählern als nicht mehr glaubwürdig empfunden wird, wenn es um soziale Gerechtigkeit und die Interessen von Arbeitnehmern geht.

Nach jahrelanger Stagnation in der Großen Koalition hat die SPD in der jüngsten Vergangenheit versucht, sich als „reformorientierte“ Partei zu präsentieren, die zwar grundlegend den durch die neoliberalen Reformen geschaffenen Status-Quo verteidigt, dies jedoch gepaart mit sozialer Rhetorik, der formellen Betonung von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit sowie einer vermeintlich „linken“ Identitätspolitik. Doch auch dieser progressive Neoliberalismus1FRASER, Nancy, Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, Blätter für deutsche und internationale Politik, Februar 2017. konnte nicht dazu beitragen, dass die SPD ihre Schwäche an der Wahlurne überwinden konnte. Im Gegenteil, die Partei hat bei vielen Wählerinnen und Wählern, die eine klare Positionierung gegenüber der neoliberalen Globalisierung und eine Stärkung des Sozialstaats erwartet hatten, weiter an Glaubwürdigkeit verloren.

Die von einigen Akteuren der Partei offensiv vertretene Identitätspolitik vertieft überdies die Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Gruppen, anstatt die solidarischen, in Teilen kommunitaristischen Interessen traditionell sozialdemokratischer Wählermilieus zu berücksichtigen. Analysen der Wahlergebnisse zeigen folglich, dass die SPD insbesondere bei denjenigen Wählergruppen am deutlichsten an Unterstützung verloren hat, die von den Auswirkungen der gesellschaftlichen Denationalisierung2HABERMAS, Jürgen, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt am Main, 1998. am stärksten betroffen sind, wie etwa Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen und in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Das ist eine fatale Bilanz für eine Partei, deren historische Wurzeln in der Arbeiterbewegung liegen.

Um ihre Schwäche zu überwinden, müsste die SPD sich wieder verstärkt auf diese Wurzeln besinnen. Eine wahrhaft sozialdemokratische Positionierung sollte eine gerechtere Verteilung von Wohlstand und Vermögen zum Ziel haben und sich für eine Stärkung des Sozialstaats und die Bekämpfung von sozialer Ungleichheit und Armut einsetzen.

II.

Der unmittelbare Auslöser für meinen Austritt ist jedoch die Lieferung der Leopard 2-Kampfpanzer an die Ukraine. Niemals war die SPD eine pazifistische Partei und ein sicherheitspolitisch realistischer Blick erfordert unter Umständen auch die Aufrüstung der Bundeswehr – wobei die Priorisierung des sog. „Sondervermögens“ angesichts des Mangels an bezahlbarem Wohnraum und des Klimawandels zumindest fraglich ist. Dennoch war der zentrale Aspekt sozialdemokratischer Außenpolitik seit jeher die Förderung der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten. Ein Ziel Willy Brandts etwa war es, aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte heraus die Beziehungen zu den Staaten des Ostblocks, insbesondere zur Sowjetunion und der DDR, durch Dialog und Entspannungspolitik zu verbessern und die Teilung Europas zu überwinden. Brandts Ostpolitik ist mithin einer der bedeutendsten Beiträge zur deutschen und europäischen Integration und wird zurecht als historisches Erbe der SPD betrachtet. Doch angesprochen auf diese vermittelnde Position gegenüber Russland entschuldigen sich aktuelle sozialdemokratische Amtsträger im vorauseilenden Gehorsam lieber für „Fehler der Vergangenheit“, während führende Außenpolitiker der SPD eine jahrzehntealte friedenspolitische Losung in ihr Gegenteil verkehren: „Frieden schaffen mit Waffen.“ Dies ist zynisch gegenüber den Opfern sämtlicher Kriege und nicht akzeptabel!

Die kontinuierliche Lieferung von Kriegswaffen in Konfliktgebiete steht folglich in einem fundamentalen Widerspruch zur traditionellen Außenpolitik der Sozialdemokratie. Fraglos stellt die russische Aggression einen massiven Bruch des allgemeinen Gewaltverbots, Art. 2 Nr. 4 UN-Charta, dar, vor deren Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückgewichen werden muss. Die Lieferung deutscher Kampfpanzer verstärkt jedoch die offensiven Fähigkeiten der Ukraine, führt zum manifesten Risiko einer nuklearen Eskalation und macht die Bundesrepublik faktisch zu einer Kriegspartei.

Denn der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine muss zwingend im Kontext eines Stellvertreterkrieges zwischen Russland und den USA ausgelegt werden. John J. Mearsheimer vertritt die Position, dass die Unterstützung der Ukraine durch den Westen, insbesondere durch die USA und die NATO, zu einer Verschärfung des Konflikts mit Russland beiträgt.3MEARSHEIMER, John J., Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault. 18. August 2022. Seiner Ansicht nach ist es wichtig, dass der Westen eine realistische und pragmatische Politik verfolgt, die sich auf die Stabilisierung der Region konzentriert. Eine solche Politik würde zwangsläufig auch die sicherheitspolitischen Interessen der Nuklearmacht Russland berücksichtigen.

Die Bundesrepublik könnte – auch in Anbetracht der deutschen Geschichte – von einer solchen realistischen Perspektive profitieren, indem sie zusammen mit Frankreich, Brasilien, China und Indien diplomatische Initiativen zur Vermeidung einer nuklearen Eskalation vermittelt. Die mangelnde Auseinandersetzung mit seiner Vorgeschichte verhindert allerdings, dass die tatsächlichen Ursachen und Dynamiken des russisch-ukrainischen Konflikts ausreichend berücksichtigt und somit auch geeignete diplomatische Maßnahmen ergriffen werden, um den Konflikt friedlich beizulegen. Vielmehr ist gegenwärtig aus dem Krieg ein blutiger Stellungskrieg geworden, dessen tatsächliche Ziele im deutschen Diskurs nicht aufrichtig diskutiert werden.

III.

Schließlich habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Partei an ihrer Führungsspitze keine eindeutige Linie verfolgt und es an einem klaren, durch charismatische Persönlichkeiten vermittelten, politischen Profil fehlt. Die häufigen Personalwechsel der letzten Jahre und nachhaltige Nicht- bzw. Misskommunikation im Kanzleramt führten überdies zu einer tiefgehenden Verunsicherung in der Bevölkerung. Damit kann ich mich nicht identifizieren. Als Mitglied einer politischen Partei erwarte ich klare Orientierung sowie eine verlässliche Führung und kein erratisches Verschieben zuvor gesetzter roter Linien aufgrund externen Drucks. Um es mit Willy Brandt zu sagen: „Es gilt sich gegen den Strom zu stellen, wenn dieser wieder einmal ein falsches Bett zu graben versuchte.“4zit. nach: MÜLLER, Michael; BRANDT, Peter; BRAUN, Reiner, Selbstvernichtung oder gemeinsame Sicherheit? Unser Jahrzehnt der Extreme: Ukraine-Krieg und Klimakrise, Frankfurt am Main, 2022.

Referenzen

Referenzen
1 FRASER, Nancy, Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, Blätter für deutsche und internationale Politik, Februar 2017.
2 HABERMAS, Jürgen, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt am Main, 1998.
3 MEARSHEIMER, John J., Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault. 18. August 2022.
4 zit. nach: MÜLLER, Michael; BRANDT, Peter; BRAUN, Reiner, Selbstvernichtung oder gemeinsame Sicherheit? Unser Jahrzehnt der Extreme: Ukraine-Krieg und Klimakrise, Frankfurt am Main, 2022.

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