Die Corona-Pandemie ist für die gesamte Gesellschaft eine gewaltige Herausforderung. Nicht zuletzt die Kinobetreiber traf der Lockdown indes ziemlich hart. Sämtliche Lichtspielhäuer mussten schon in der ersten Phase schließen und sind aktuell wieder geschlossen, viele Premieren wurden verschoben oder in einigen Fällen sogar teilweise in das Internet verlegt. Überhaupt werden Netflix & Co. die besten Chancen eingeräumt, das Kino als Institution abzulösen. Das wird wohl am ehesten auf die vielen kleinen Programmkinos zutreffen, doch für das Mainstreamkino war 2019 eines der erfolgreichsten Jahre überhaupt. Aber sind wir doch mal ehrlich, mit einem richtigen Kinobesuch hat Streaming auf der Wohnzimmer-Couch wenig gemein. Es ist also an uns Zuschauer, dafür zu sorgen, dass auch das kleine Kino an der Ecke überlebt. Unbestritten ist indes, dass die Digitalisierung die Kinolandschaft vor gewaltige Herausforderungen stellt. So werden zunehmend qualitativ hochwertigere Produktionen zuerst im Streaming veröffentlicht.
Eines dieser viel gelobten und vermeintlich erstklassigen Produktionen ist Enola Holmes, ein Krimi, der auf einer Buchreihe der US-amerikanischen Autorin Nancy Springer basiert und am 23. September 2020 auf Netflix erschienen ist. Darin ermittelt die titelgebende jüngere Schwester von Sherlock Holmes – gespielt von Stranger-Things-Star Millie Bobby Brown – in dem Fall ihrer verschwundenen Mutter (Helena Bonham Carter). Wurde sie entführt, musste sie fliehen? Was sind das für geheimnisvolle Treffen mit anderen Frauen, an denen ihre Mutter regelmäßig teilnahm? Eigentlich eine spannende Ausgangslage vor dem Hintergrund der historischen Debatte um das Frauenwahlrecht. Doch die herbeigerufenen Brüder, der skeptische Sherlock (Henry Cavill) und der reaktionäre Mycroft (Sam Clavlin), sind ihrer Schwester keine große Hilfe. Im Gegenteil, am liebsten würden sie Enola in ein autoritäres Erziehungsheim stecken. Doch Enola widersetzt sich dem Vorhaben ihrer Brüder und kommt sodann von einer platten „Ich zeige den Männern, wo es lang geht“-Situation in die nächste. Dank dieser holzschnittartigen Rahmenbedingungen kommt Enola Holmes leider nicht über oberflächliches Empowerment hinaus. Die simple wie neoliberale Botschaft: Um sich zu behaupten ist man stets auf sich alleine gestellt. Denn jede*r ist für seinen eigenen gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg individuell verantwortlich. Kein Wunder also, dass Enola zugleich ein Anagramm von „alone“ ist.
Der Höhepunkt der Zumutung ist schließlich, als sie von einem blasierten Adeligen namens Viscount Tewskbury (Louis Partridge) gefragt wird, ob sie „noch immer in diesem grauenvollen Gästehaus wohnt.“ Aber Enola kann ihn beruhigen: „Nein, ich hatte von deiner Mutter ja die Belohnung und … habe mir etwas Neues gesucht.“ Die Frage nach den materiellen Verhältnissen wird hier nicht gestellt. Kein Wort von den mitunter existenziellen Kämpfen, die Arbeiterinnen in der patriarchalen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts führen mussten. Das einzig Kritische am Verhalten von Enola bleibt somit, dasss sie ihrem jungadeligen Freund von Anfang an die Verbeugung verweigert. Das kann jedoch auch nur als Ausdruck der frechen Aufmüpfigkeit eines jungen Mädchens gelesen werden. Denn in der viktorianischen Welt von Enola Holmes hungert niemand und alle haben irgendwie Geld. Aber das ist egal, denn die Welt lässt sich ja retten, wenn man nur stark genug an sich selbst glaubt. Der progressive Neoliberalismus lässt grüßen: Wer identitätspolitische Fragen über alles andere stellt, erschafft solche Filme. Und die sind – frei nach Siegfried Kracauer – der Spiegel der bestehenden Gesellschaft.1KRACAUER, Siegfried, Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino, in: ders., Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt am Main, 1977, S. 279-294.
Darüberhinaus schafften es in diesem sehr kurzen Kinojahr 2020 auch einige sehenswerte Filme auf die große Leinwand, die ich Euch nicht vorenthalten möchte. Daher folgt in chronologischer Reihenfolge die aus meiner Sicht besten Filme der letzten zwölf Monate – diesmal sind es allerdings nur 15. Per Klick auf das Filmposter geht’s aber immer noch zum jeweiligen Trailer. Welche Filme fehlen in dieser Liste? Ab in die Kommentare damit!
Knives Out – Mord ist Familiensache
Film-Genre: Krimi | Komödie
Kino-Start: 02. Januar 2020
Regie: Rian Johnson
Harlan Thrombey (Christopher Plummer) ist tot! Und nicht nur das – der renommierte Krimiautor und Familienpatriarch wurde auf der Feier zu seinem 85. Geburtstag umgebracht. Doch natürlich wollen weder die versammelte exzentrische Verwandtschaft noch das treu ergebene Hauspersonal etwas gesehen haben. Ein Fall für Benoit Blanc (Daniel Craig): Der lässig-elegante Kommissar beginnt seine Ermittlungen und während sich sämtliche anwesenden Gäste alles andere als kooperativ zeigen, spitzt sich die Lage zu und das Misstrauen untereinander wächst. Ein komplexes Netz aus Lügen, falschen Fährten und Ablenkungsmanövern muss durchkämmt werden, um die Wahrheit hinter Thrombeys vorzeitigem Tod zu enthüllen.
Kurzrezension: Agatha Christie lässt grüßen: Knives Out – Mord ist Familiensache ist eine zeitgemäße Erneuerung des Kriminalfilms im Whodunit-Konzept mit erstklassiger Besetzung, die sich auf der feinen Linie zwischen Hommage und Persiflage (etwa Daniel Craigs Benoit Blanc als Gegenstück zu Hercule Poirot) bewegt. Der eigentliche Star des Films ist allerdings das raffinierte Drehbuch von Autorenfilmer Rian Johnson, das mit einem sorgfältig aufgebauten Spannungsbogen, einem schlauen Sinn für Humor und subversiven Klassenkommentaren etwa hinsichtlich der US-amerikanischen Einwanderungspolitik der Ära Trump überzeugt.
1917
Film-Genre: Kriegsfilm | Drama
Kino-Start: 16. Januar 2020
Regie: Sam Mendes
Der Erste Weltkrieg befindet sich im April 1917 auf seinem grausamen Höhepunkt. Im Norden Frankreichs belagern sich deutsche und britische Einheiten in ihren Schützengräben, ohne auch nur einen Zentimeter vorzurücken. Die Moral der Truppen auf beiden Seiten wird zunehmend schlechter. In dieser Situation werden die Soldaten William Schofield (George MacKay) und Joseph Blake (Dean-Charles Chapman) von ihrem Vorgesetzen General Erinmore (Colin Firth) mit einem ebenso dringlichen wie gefährlichen Auftrag bedacht: Sie sollen das zerbombte Niemandsland durchqueren und eine Nachricht an ein anderes britisches Bataillon überbringen. Dieses ist nämlich kurz davor, in einen deutschen Hinterhalt und damit in den Tod zu stürmen. Wenn die beiden jungen Rekruten es nicht rechtzeitig schaffen, werden mehr als 1500 britische Soldaten sinnlos ihr Leben verlieren – darunter auch Blakes älterer Bruder Leslie (Andrew Scott)…
Kurzrezension: In 1917 perfektioniert Regisseur Sam Mendes die One-Shot-Einstellung und erzeugt dadurch beim Publikum das nervenaufreibende Gefühl, selbst in das Geschehen involviert zu sein. Zusammen mit der mehrfach oscarprämierten Kamera von Roger Deakins, bewegt sich das Publikum mal angespannt langsam, mal rasant und gehetzt durch die Weltkriegs-Szenerie. Durch die eindrucksvollen Bilder und die authentische Ausstattung besteht zwar die Gefahr, dass der Krieg hier zu einer rein ästhetischen Erfahrung verklärt wird. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen allerdings die unmittelbaren Sinneserfahrungen der Protagonisten im Krieg und nicht einzelne Moralfragen. Ein äußerst immersives Kino-Erlebnis.
Sorry We Missed You
Film-Genre: Drama
Kino-Start: 30. Januar 2020
Regie: Ken Loach
Ricky (Kris Hitchen), Abby (Debbie Honeywood) und ihre zwei Kinder Seb (Rhys Stone) und Liza Jane (Katie Proctor) leben in Newcastle. Sie sind eine starke liebevolle Familie, in der jeder für den anderen einsteht. Während Ricky sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, arbeitet Abby als Altenpflegerin. Egal, wie sehr sich die beiden jedoch anstrengen, sie wissen, dass sie niemals unabhängig sein oder ihr eigenen Haus haben werden. Doch dann heißt es: Jetzt oder nie! Dank der Digitalisierung bietet sich Ricky die Gelegenheit. Abby und er setzen alles auf eine Karte und verkaufen ihr Auto, damit Ricky sich einen Lieferwagen leisten und als selbständiger Kurierfahrer durchstarten kann. Die Zukunft scheint verlockend. Doch der Preis für Ricky Selbständigkeit erweist sich als wesentlich höher als gedacht. Die Familie muss enger zusammenrücken und um ihren Zusammenhalt kämpfen.
Kurzrezension: In Sorry We Missed You portraitiert Filmemacher Ken Loach mit dem ökonomischen Überlebenskampf einer Familie aus der unteren Mittelschicht ein Phänomen, das in der medialen Wahrnehmung weitestgehend keine Beachtung findet. Loach beschreibt mit der sog. Gig Economy ein mittlerweile weit verbreitetes Geschäftsmodell, das Arbeitnehmer*innen die Vorzüge der Selbständigkeit vorgaukelt, in Wirklichkeit jedoch zu einer Reduzierung von Sozialstandards und dem Abbau von Arbeiternehmerrechten führt. Über allem steht das neoliberale Streben nach fortlaufender Optimierung, das die Familie Turner jedoch immer weiter in die Krise schlittern lässt. Ein äußerst bitteres Sozialdrama im Turbokapitalismus des 21. Jahrhunderts.
Little Women
Film-Genre: Drama
Kino-Start: 30. Januar 2020
Regie: Greta Gerwig
Die vier March-Schwestern Jo (Saoirse Ronan), Meg (Emma Watson), Amy (Florence Pugh) und Beth (Eliza Scanlen) wachsen Mitte des 19. Jahrhunderts in der von starren Geschlechterrollen dominierten Gesellschaft der Vereinigten Staaten auf. Je älter sie werden, desto mehr müssen sie einsehen, welche Hindernisse ihnen bei ihrer Selbstbehauptung als Frauen in den Weg gelegt werden. Gleichzeitig wird ihnen dadurch aber auch klar, wie sehr sie sich letzten Endes doch unterscheiden. Während die stolze Jo etwa Schriftstellerin werden möchte und das gesellschaftliche Rollendiktat der Ehefrau und Mutter verachtet, folgt Meg ihrem Herzen in die Heirat. Amy hingegen will ihre Einzigartigkeit durch die Malerei ausdrücken. Von der Männerwelt werden die vier Frauen oft kritisch beäugt – mit Ausnahme des jungen Laurie (Timothée Chalamet), der sich sehr für Jo interessiert…
Kurzrezension: Vielseitige Leinwand-Adaption des gleichnamigen Romans von Louisa May Alcott. Durch die unchronologische Erzählweise verleiht Regisseurin Greta Gerwig dem Geschehen eine moderne Dramatik ohne in ein verstaubtes Kostümdrama abzudriften. Auch dank der erstklassigen Besetzung gelingt ihr eine mitreißende, niemals kitschige Coming-of-Age-Geschichte über den Kampf von fünf ganz unterschiedlichen Frauen gegen schon damals überkommene Rollenklischees.
Uncut Gems – Der schwarze Diamant
Film-Genre: Krimi | Thriller
Netflix-Start: 31. Januar 2020
Regie: Josh & Benny Safdie
Der charismatische New Yorker Diamantenhändler Howard Ratner (Adam Sandler) versorgt einige der Schönen und Reichen der Stadt mit Diamanten, doch selbst ist er deswegen nicht reich. Er ist nämlich spielsüchtig und steht bei mehreren Kredithaien tief in der Kreide. Er erwirbt einen großen, schwarzen Opal, der viele seiner finanziellen Probleme auf einem Schlag lösen könnte. Doch kurz vor der Versteigerung bringt sein Geschäftspartner Demany (LaKeith Stanfield) Basketball Superstar Kevin Garnett in den Laden, der den fetten Klunker unbedingt als Glücksbringer für ein wichtiges Spiel haben möchte. Ratner überlässt dem Star den Diamanten, doch das war ein großer Fehler…
Kurzrezension: Adam Sandler in seiner bisher anspruchvollsten und wohl besten Rolle. Und dann auch noch in einem kapitalismuskritischen Film: Das Regieduo Josh und Benny Safdie übertragen die ansonsten nur mit den Finanzmärkten in Verbindung gebrachte Spekulationspraxis, also das Spiel mit Gewinn- und Verlusterwartungen, ins Private. Dadurch gelingt es Ihnen, die dahinterliegende, nicht auf den ersten Blick erkennbare, Dynamik kenntlich zu machen. Die Gewinnerwartungen stehen in der Realität in keiner Verbindung mehr mit dem realen Wert (s. Tesla Inc.). Und so ist es auch in diesem Kriminalfilm: Jene, welche die tatsächliche Arbeit erledigen, erhalten davon am Ende wenig. Der schwarze Diamant ist wahrlich ein ungeschliffener Edelstein – unbedingt anschauen!
Intrige
Film-Genre: Drama | Historie
Kino-Start: 06. Februar 2020
Regie: Roman Polanski
Am 5. Januar 1895 wird der junge französische Offizier Alfred Dreyfus (Louis Garrel) wegen Hochverrats in einer erniedrigenden Zeremonie degradiert und zu lebenslanger Haft auf die Teufelsinsel im Atlantik verbannt. Zeuge dieser Entehrung ist auch Marie-George Picquart (Jean Dujardin), der kurz davor zum Geheimdienstchef der Abteilung befördert wird, die Dreyfus‘ angebliche Spionagetätigkeit für die Deutschen aufdeckte. Anfänglich überzeugt von Dreyfus‘ Schuld kommen Picquart allmählich Zweifel. Als weiterhin militärische Geheimnisse an die Deutschen verraten werden, erkennt er, dass der falsche Mann verurteilt wurde. Erschüttert informiert er seine Vorgesetzten, doch diese weisen ihn an, die Sache unter den Tisch fallen zu lassen. Entgegen seines Befehls ermittelt er weiter und gerät in ein gefährliches Labyrinth aus Verrat und Korruption, das nicht nur seine Ehre, sondern auch sein Leben in Gefahr bringt.
Kurzrezension: Roman Polanski verwandelt die Affäre Dreyfus in ein packendes Kino-Drama, das sich im Laufe des Films von einem historischen Detektivfilm zu einem Polit- und Gerichtsthriller entwickelt. Nüchtern und zurückhaltend inszeniert aber immer mit dem Blick fürs Detail vertraut Polanski einzig auf die Kraft der Geschichte. Im Grunde genommen ist Intrige ein Film über einen historischen Whistleblower und taugt als spannender Geschichtsunterricht über ein trauriges Kapitel der französischen Vergangenheit. Unweigerlich stellen der frühe Antisemitismus, die Macht der Ressentiments, „alternative Fakten“ und eine gespaltene Gesellschaft Bezüge zur Gegenwart her. Es ist bemerkenswert, dass dies einem Historiendrama gelingt.
Wagenknecht
Film-Genre: Dokumentation
Kino-Start: 21. Februar 2020
Regie: Sandra Kaudelka
In ihrem Dokumentarfilm fängt die Filmemacherin Sandra Kaudelka die Arbeit der deutschen Politiker auf der Parlamentsebene ein. Als Beispiel dient ihr dafür Sahra Wagenknecht, die ehemalige Fraktionsvorsitzende der Linkspartei. Sie hat die Politikerin zwei Jahre lang bei ihrer Arbeit begleitet und dabei festgestellt, welch extremen Druck und Anfeindungen, aber auch welchem Beifall und Bewunderung sie ausgesetzt ist. So tingelt sie unermüdlich von Fernsehshows zu Interviews, Pressekonferenzen und Fotoshootings. Was treibt Sahra Wagenknecht an? Vor allem will sie dem Erstarken der Neuen Rechten in Parlament und Gesellschaft die Stirn bieten. Als die Dreharbeiten im Frühjahr 2017 beginnen, steht das Land ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl und es besteht die Chance, dass die Linkspartei erstmals seit der Wiedervereinigung Regierungsverantwortung übernehmen könnte…
Kurzrezension: Mit unaufgeregten Bildern begleitet Sandra Kaudelka in ihrer Dokumentation den Alltag einer der interessantesten Spitzenpolitikerinnen Deutschlands. Während anfangs vielfach gewöhnliche Momente im Mittelpunkt stehen, wird es spannend, wenn es auf dem Bundesparteitag zur Konfrontation der beiden linken Positionen zur Migrationspolitik kommt und Wagenknecht letztlich zu einer tragischen Figur wird. Den dramatischen Höhepunkt stellt schließlich ein Treffen von Vertreter*innen von Fridays for Future mit Sahra Wagenknecht dar, die zuvor vergeblich versuchte, eine überparteiliche Protestbewegung zu etablieren. Ein aufschlussreicher Film über den aktuellen Zeitgeist, Naivität und das Getriebensein im politischen Betrieb.
The Assistant
Film-Genre: Drama
Kino-Start: 23. Februar 2020
Regie: Kitty Green
Die junge College-Absolventin Jane (Julia Garner) will es zur Filmproduzentin schaffen und bekommt auf Anhieb ihren Traumjob: als Junior-Assistentin eines mächtigen Unterhaltungsmoguls (Jay O. Sanders). Tatsächlich ist ihr Tagesablauf jedoch der eines typischen Assistenten: Kaffee kochen, Papier im Kopierer wechseln, Mittagessen bestellen, Reisen organisieren, Anrufe entgegennehmen und neue Mitarbeiter begrüßen. Doch je länger Jane ihrer täglichen Routine folge, desto mehr wird ihr der Missbrauch in ihrer Branche bewusst. Als sie sich jedoch entscheidet, gegen die Erniedrigungen Stellung zu beziehen, entdeckt sie das wahre Ausmaß des Systems, das sie gefangen hält…
Kurzrezension: Der Regisseurin Kitty Green gelingt eine beeindruckende Darstellung ausbeuterischer Machtverhältnisse im beruflichen Umfeld. Die Bezüge zum Weinstein-Skandal sind natürlich unübersehbar, allerdings geht die Bedeutung von The Assistant weit über #MeToo hinaus. Zwar ist die sexualisierte Gewalt omnipräsent – obgleich der Zuschauer sie nie zu sehen bekommt – , die Sprengkraft umfasst aber das gesamte Arbeitsumfeld als solches. Die Entmenschlichung des Arbeitsplatzes in Zeiten von Bullshit-Jobs2GRAEBER, David, Bullshit-Jobs: Vom wahren Wert der Arbeit, New York 2018. wird sichtbar, wenn Jane Kaffee kocht, Snacks bereitstellt oder den Kopierer von einem Papierstau befreit. Ein simples Dankeschön fällt nie. Sehenswert!
Undine
Film-Genre: Fantasy | Drama
Kino-Start: 23. Februar 2020
Regie: Christian Petzold
Die Historikerin Undine Wibeau (Paula Beer) gibt Stadtführungen in Berlin. Als sich ihr Freund Johannes (Jacob Matschenz) von ihr trennt, um mit einer anderen Frau zu leben, nimmt das Unheil seinen Lauf: Ein Fluch besagt, dass Undine den Mann, der sie verrät, töten und danach in das Wasser zurückkehren soll, aus dem sie einst gerufen wurde. Doch Undine wehrt sich – anders als die Sagenfigur – gegen das ihr auferlegte Schicksal. Sie will niemanden umbringen und auch nicht einfach gehen. Just zum Zeitpunkt des Verrats an Undine erscheint der Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski) auf der Bildfläche und für beide ist es Liebe auf den ersten Blick. Christoph will Undine „seine“ Welt unter Wasser zeigen – die sie aber schon längst kennt. Das junge Paar verbringt eine unvergessliche Zeit miteinander, bis Christoph merkt, dass seine Angebetete irgendetwas vor ihm verheimlicht. Nun fühlt er sich verraten und für Undine wird es Zeit, sich erneut zu entscheiden…
Kurzrezension: Undine ist der erste Teil eine Trilogie, in der sich Regisseur Christian Petzold der deutschen Romantik widmet. Dafür vertraut er erneut dem Schauspielduo Beer/Rogowski, die schon in Petzolds letztem Film Transit brillierten. Insbesondere Paula Beer unterstützt durch die fragile Darstellung der Undine die Faszination der mystischen Sagenfigur, die dem Wasser entsprungen ist und auch dorthin wieder zurückkehren muss. Doch diese moderne Nixe möchte sich nicht mehr ihrem Fluch beugen, sie möchte nicht mehr morden und dann verschwinden, sondern sich gegenüber ihrer eigenen Geschichte emanzipieren. Zwischen Mythos und Realität zeichnet Undine ein modernes Märchen und stellt nebenbei die ganz großen Fragen. Unbedingt anschauen!
Berlin Alexanderplatz
Film-Genre: Drama
Netflix-Start: 26. Februar 2020
Regie: Burhan Qurbani
Francis (Welket Bungué) befindet sich auf der illegalen Überfahrt von Afrika nach Europa, als sein Schiff in einen Sturm gerät. Der verzweifelte Francis betet um Rettung und schwört, dass er fortan gut und anständig sein will, wenn er es nur sicher an die Küste schafft. Sein Wunsch wird ihm gewährt und er gelangt tatsächlich an Land, wo es ihn schlussendlich nach Deutschland verschlägt. Francis ist bemüht, seinen Schwur einzuhalten, doch das Leben als Flüchtling macht ihm das nicht gerade einfach: Schließlich lässt sich Francis mit dem deutschen Drogendealer Reinhold (Albrecht Schuch) ein, der ihn für seine Geschäfte einspannen will. Francis widersteht der Versuchung lange, doch schließlich gibt er nach. Als er eines Tages auf Mieze (Jella Haase) trifft und sich in sie verliebt, scheint sich sein Leben zum Besseren zu kehren. Doch Reinhold lässt ihn nicht in Ruhe…
Kurzrezension: In Berlin Alexanderplatz verlegt Regisseur Burhan Qurbani die Handlung von der Weimarer Republik in die Gegenwart. Und schreit unsere Zeit nicht geradezu nach einem Epos wie dem des Jahrhundert-Romans von Alfred Döblin? Leider beschäftigt sich Qurbanis Interpretation weniger mit den gesellschaftlichen Zwängen, die auch für die Gegenwart charakteristisch sind. Vielmehr fokussiert sie sich auf das individuelle Schicksal und die Psychosen der Protagonisten. Dies geschieht zwar durchaus auf vielschichtige Weise (etwa in der Figur des Reinhold), allerdings entledigt sich Qurbani damit auch dem eigentlich gesellschaftskritischen Sujet. Vom alles verschlingenden Großstadtmoloch der Literaturvorlage bleibt indes nicht mehr viel übrig, sodass Berlin Alexanderplatz tatsächlich weitaus weniger politisch ist, als es auf den ersten Blick erscheint. Dennoch liefern die Schauspieler, allen voran Welket Bungué und Albrecht Schuch, eine erstklassige und daher sehenswerte Leistung ab!
Der Unsichtbare
Film-Genre: Thriller | Science-Fiction
Kino-Start: 27. Februar 2020
Regie: Leigh Whannell
Es gibt keinen anderen Ausweg mehr: Cecilia Kass (Elisabeth Moss) will endlich einen Schlussstrich ziehen und sich aus der gewaltvollen Beziehung zu ihrem kontrollsüchtigen Freund (Oliver Jackson-Cohen) lösen. Eines Nachts fasst sie den Entschluss endgültig das Weite zu suchen. Mit ihrer Schwester Emily (Harriet Dyer), ihrem Kindheitsfreund James (Aldis Hodge) und dessen Tochter Sydney (Storm Reid) taucht sie schließlich unter, woraufhin ihr nun Ex-Freund Selbstmord begeht. Während Cecilia einen erheblichen Teil von dessen Vermögen erbt, häufen sich allerdings die unheimlichen Vorkommnisse in ihrem Leben, die schon bald ein erstes Todesopfer fordern. Die vermeintliche Witwe ist sich sicher: Ihr Ex hat seinen Tod nur vorgetäuscht, um jetzt unsichtbar Jagd zu machen auf alle, die ihr lieb sind – aber wer wird ihr schon glauben?
Kurzrezension: Dem australischen Regisseur und Drehbuchautor Leigh Whannell gelingt mit seiner Kino-Adaption des gleichnamigen Romans von H. G. Wells eine bitterböse Mischung aus Thriller und Science-Fiction mit intensiven Horrorelementen. Getragen wird dieser atmosphärische Genremix insbesondere durch seine Hauptdarstellerin: Elisabeth Moss zeigt eine erstklassige schauspielerische Leistung und auch der übrige Cast weiß durchaus zu überzeugen. Leider wandelt sich die emotionale Tour de Force gen Ende etwas zu einem halbgaren Action-Schocker mit einigen Logiklöchern. Dennoch bleibt es sehenswert, wie sich Cecilia gegen einen völligen Zusammenbruch stemmt.
Just Mercy
Film-Genre: 27. Februar 2020
Kino-Start: Drama
Regie: Destin Daniel Cretton
Als junger, vielversprechender Rechtsanwalt kann sich Bryan Stevenson (Michael B. Jordan) nach seinem Abschluss an der Harvard Law School aussuchen, wo er arbeitet. Sein Antrieb ist aber nicht etwa die Möglichkeit, viel Geld zu verdienen, sondern vor allem denen zu helfen, die seine Unterstützung ganz besonders benötigen. Er geht nach Alabama, wo er sich an der Seite der Rechtsanwältin Eva Ansley (Brie Larson) für zu Unrecht Verurteilte einsetzt – und macht mit einem seiner ersten Fälle gleich Schlagzeilen: Denn Walter McMillian (Jamie Foxx) soll einen grausamen Mord begangen haben, für den er zum Tode verurteilt wurde. Und das obwohl ausreichend Beweise für seine Unschuld vorliegen. Belastet wird der angebliche Täter nur durch die Aussage eines Kriminellen, der auch noch guten Grund hat, zu lügen. Doch Bryan lässt nicht locker und nimmt sich in seinen ersten Berufsjahren zahlreicher Fälle mit geringen Erfolgsaussichten an, die ihn immer wieder mit offensichtlichem Rassismus konfrontieren…
Kurzrezension: Das auf einem wahren Sachverhalt aus dem Jahr 1987 basierende Justizdrama erzählt von Rassismus und Polizeiwillkür. Thematisch ist dies freilich nichts Neues: Juristische Ungerechtigkeiten werden im Hollywood-Kino spätestens seit To Kill A Mockingbird regelmäßig und gerne verfilmt. Doch hier geraten die Figuren leider etwas holzschnittartig: Von Anfang an ist der Zuschauer von Walters Unschuld überzeugt, Michael B. Jordan verkörpert den Kämpfer für das Wahre und Gute. Dennoch vermeidet Regisseur Destin Daniel Cretton durch seine nüchterne Inszenierung das Abgleiten ins allzu Pathetische. Sehenswert sind überdies die schauspielerischen Leistungen des gesamten Casts – besonders Jamie Foxx spielt den Todeskandidaten Walter sehr überzeugend auf dem schmalen Grat zwischen Hoffnung und Resignation.
The Gentlemen
Film-Genre: Krimi | Komödie
Kino-Start: 27. Februar 2020
Regie: Guy Ritchie
Smart, knallhart und mit genialem Gespür fürs Geschäft hat sich der Exil-Amerikaner Mickey Pearson (Matthew McConaughey) über die Jahre ein millionenschweres Marihuana-Imperium in Großbritannien aufgebaut und exportiert feinsten Stoff nach ganz Europa. Doch Mickey will aussteigen, endlich mehr Zeit mit seiner Frau Rosalind (Michelle Dockery) verbringen und auf legalem Weg das Leben in Londons höchsten Kreisen genießen. Ein Käufer für die landesweit verteilten Hanfplantagen muss her. Der exzentrische Milliardär Matthew Berger (Jeremy Strong) bietet eine hohe Summe, will dafür jedoch Garantien sehen. Und das ausgerechnet in dem Moment, in dem sämtliche Groß- und Kleinkriminelle der Stadt Wind von Mickeys Plänen bekommen haben. Während Mickeys rechte Hand Ray (Charlie Hunnam) seinem Boss den gröbsten Ärger vom Hals hält, überbieten sich alle Beteiligten mit Tricks, Bestechung, Erpressung und anderen fiesen Täuschungen und lösen damit eine folgenschwere Lawine aus…
Kurzrezension: Oft kopiert, aber selten erreicht: Guy Ritchie gelingt nach seinen kommerziell erfolgreichen Ausflügen in den familientauglichen Mainstream (Sherlock, Aladdin-Remake) die Rückkehr in das Filmgenre, dass ihn (oder er) groß gemacht hat: die britische Gangster-Komödie. Heraus kommt ein skurriles und schwarzhumoriges Genre-Highlight mit einer wirklich fantastischen Besetzung: Sei es Hugh Grant als schmieriger, aber überraschend selbstironischer Privatdetektiv mit Kontakten zum Boulevard-Journalismus oder Colin Farrell als proletarischer Boxtrainer im karierten Trainingsanzug, dessen Mutterinstinkt tatsächlich Leben rettet. Im Übrigen bleibt der Regisseur seinen Stilmitteln, also einem pointenreichen Erzählstil und einer verschachtelten Inszenierung, treu – ein echter Guy Ritchie-Film eben!
Family Romance, LLC
Film-Genre: Drama
Kino-Start: 04. Juli 2020
Regie: Werner Herzog
Schon seit vielen Jahren ist der Japaner Yuichi Ishii mit seinem Unternehmen „Family Romance, LLC“ im Geschäft. Der Service, den er und seine Mitarbeiter anbieten, ist äußerst exklusiv: Sie lassen sich auf Wunsch als Verwandte, Freunde und manchmal auch Sündenböcke engagieren. Auch Ishii ist einer dieser Schauspieler. Für einen neuen Klienten soll er den lange verschollenen Vater der 12-jährigen Mahiro (Mahiro Tanimoto) mimen, die davon natürlich nichts wissen darf. Dieser Auftrag weckt in Ishii allerdings echte Gefühle und stürzen ihn daraufhin in einen inneren Konflikt…
Kurzrezension: Das Œuvre von Werner Herzog umfasst Spielfilme genauso wie Dokumentationen. Es verwundert also nicht, wenn der Filmemacher in seinem neuesten Werk beide Elemente miteinander vermischt: Das Unternehmen von Yuichi, von dem der Spielfilm Family Romance, LLC handelt, existiert wirklich. Seine Agentur vermittelt Schauspieler*innen, die vorgeben, jemand anders zu sein, um eine emotionale Lücke zu füllen. Anfangs nur eine bizarre Geschäftsidee, entwickelt sich daraus in einem Fall eine Beziehung mit echten Gefühlen, die unmittelbar in eine moralische Grauzone führen. Doch trotz aller oberflächlicher Harmonie, der Mensch darunter bleibt stets alleine. Herzog wagt mit seinem Drama einen Blick in eine einsame Zukunft, die zumindest teilweise schon Realität geworden ist. Eine Zukunft, in der Schein mehr bedeutet als Sein.
Tenet
Film-Genre: Action | Thriller
Kino-Start: 26. August 2020
Regie: Christopher Nolan
Der Protagonist (John David Washington), ein CIA-Agent wird nach einem Einsatz bei einem Terroranschlag auf die Kiewer Oper enttarnt. Selbst unter Folter weigert er sich jedoch, seine Kollegen zu verraten und nimmt sich selbst das Leben – oder glaubt das zumindest. In Wahrheit hat er so einen ultimativen Test bestanden und dadurch Zugang zu einer geheimen Organisation gewonnen, die versucht, den Dritten Weltkrieg zu verhindern. Die Mitarbeiter stoßen immer wieder auf mysteriöse Gegenstände aus der Zukunft, die sich rückwärts in der Zeit bewegen – die sogenannte Inversion. Offenbar handelt es sich dabei um eine Kriegserklärung aus der Zukunft, deren Mittelsmann der russische Waffenhändler Andrei Sator (Kenneth Branagh) ist. Gemeinsam mit seinem neuen Partner Neil (Robert Pattinson) versucht der Protagonist, Zugang zu Sator zu erhalten und den Krieg der Zeiten zu verhindern. Eine Möglichkeit scheint Sators Ehefrau Kat (Elizabeth Debicki) zu sein…
Kurzrezension: Tenet ist der wohl meistdiskutierte Kinofilm des Jahres. Als solcher wurde er zwar äußerst gemischt aufgenommen, unter anderem weil die Handlung des Films sehr komplex ist. Sobald man als Zuschauer jedoch die ihm zu Grunde liegende Dynamik verstanden hat, eröffnen sich interessante Interpretationsmöglichkeiten – auch wenn dafür eventuell mehrere Anläufe erforderlich sind. Denn in Tenet soll in der Gegenwart verhindert werden, was in der Zukunft schon geschehen ist. Wem drängt sich da nicht das virulente Problem des Klimawandels auf? Somit gelingt Christopher Nolan ein äußerst bildgewaltiger Science-Fiction-Film mit Spionage-Elementen, der sich im Übrigen aufgrund seines Zeitkonzepts optimal in dessen kinematographisches Gesamtwerk einfügt. Mit Sicherheit keine leichte Kost für zwischendurch, aber jedenfalls ein einzigartiges Kino-Erlebnis!
Honorable Mentions:
Freies Land, Ein verborgenes Leben, Der Fall Richard Jewell, Bombshell – Das Ende des Schweigens, Königin, Da 5 Bloods, Gretel & Hänsel: Ein Märchen neu erzählt, Exit, Das Dilemma mit den sozialen Medien, Das Handwerk des Teufels, David Attenborough: Mein Leben auf unserem Planeten, Mank, Louis van Beethoven
Filme, die ich 2020 sonst noch gesehen habe:
Narziss und Goldmund, Crescendo, Jojo Rabbit, Birds of Prey: The Emancipation of Harley Quinn, Curiosa: Die Kunst der Verführung, Die Känguru-Chroniken, Superman: Red Son, Die Getriebenen, 365 Days, Hamilton, Edison – Ein Leben voller Licht, Mulan, The New Mutants, Enola Holmes, Rebecca, Borat-Anschluss-Moviefilm, Holidate, Ökozid, Gott von Ferdinand von Schirach