Eine griechische Tragödie unter deutscher Regie?

Nun ist es anscheinend bald soweit. Die Option eines griechischen Austritts aus der Eurozone (warum stört sich eigentlich niemand an dem simplifizierenden Begriff „Grexit“?) rückt von Tag zu Tag näher. Und jeden weiteren Tag überschlagen sich die Wasserstandsmeldungen aus Athen und Brüssel.

Insbesondere in Deutschland wird die Diskussion über die europäische Staatsschuldenkrise mit einer unglaublichen Verve geführt. Dreist und fast schon abstoßend finde ich jedoch die populistischen Schlagzeilen u.a. hier, hier oder hier, mit denen die BILD versucht, Stimmung gegen Griechenland zu machen. Unsäglich waren auch die Grexit-Selfie-Aktion und der Versuch mit Instrumentalisierung der Öffentlichkeit Druck auf die Abgeordneten des Bundestags auszuüben. Diese Stimmungsmache gegen Griechenland, die Syriza-Regierung und insbesondere Gianis Varoufakis hat in der deutschen Medienlandschaft Methode, wie der Medienjournalist Stefan Niggemeier in einem Blogeintrag eindrucksvoll zeigt.

Es ist also an der Zeit, die Perspektive zu wechseln. Machen wir daher einen Schritt zurück, betrachten die Fakten, um schließlich aus einer supranationalen Perspektive die Situation zu analysieren, in der sich die Europäische Union gegenwärtig befindet.

Was war: ein fehlerhafter Anfang

Im Nachhinein kann die Aufnahme Griechenlands in die europäische Währungsunion wohl als Fehler betrachtet werden, dessen historische Tragweite damals kein politischer Beobachter ahnen konnte. Die gefälschten Datensätze, die das Statistische Amt Griechenlands an Brüssel übermittelte, möchte ich an dieser Stelle gar nicht weiter erwähnen.

Schon 2009 betrug das jährliche Haushaltsdefizit des griechischen Staates nicht wie offiziell veröffentlicht 6% des Bruttoinlandsprodukts (BIP), sondern lag bei etwa 12-13 % und überstieg damit weit die in den EU-Konvergenzkriterien festgelegte Schuldenobergrenze von 3% des BIP. Die Risikoaufschläge für griechische Staatsanleihen schnellten in der Folge nach oben, so dass die griechische Regierung im Jahr 2010 die Troika aus IWF, EZB und EU (jetzt nunmehr noch „die Institutionen“ genannt“) offiziell um ein finanzielles Hilfsprogramm ersuchte. Diese Finanzierungshilfen in Form von Kreditbürgschaften in Höhe von 110 Milliarden Euro wurden dem griechischen Staat unter der Auflage gewährt, ein striktes Sparprogramm durchzusetzen. Alle darauffolgenden Hilfspakete sind seitdem an die Fortführung der Austeritätspolitik gebunden.

Die Maßnahmen dieser Politik umfassten konzentrierten sich insbesondere auf die Reform der Öffentlichen Verwaltung, auf die Bekämpfung von Korruption und Schattenwirtschaft und auf die Reduktion der Militärausgaben. Allerdings brachte die Troika-Politik auch tiefe sozialpolitische Einschnitte mit sich. Einige ausgewählte Maßnahmen:

  • Einfrierung der Beamtengehälter über 2000 Euro (Zweites Sparpaket)
  • Absenkung des Mindestlohns auf 586 Euro (Viertes Sparpaket)
  • Kürzung des Arbeitslosengeldes auf 322 Euro (Viertes Sparpaket)
  • Kürzung der Renten um 10 bis 15 Prozent (Viertes Sparpaket)
  • Erhöhung der Selbstbeteiligung bei Medikamenten (viertes Sparpaket)
  • Entlassung von 14.000 Beamten (alle Sparpakete kumuliert)

Was ist: eine fehlerhafte Politik

Natürlich kann man zunächst einmal darüber streiten, ob es mit diesen Einschnitten die Richtigen getroffen hat. Betrachten wir in Grafik 1 aber einmal das ökonomische Wachstum der griechischen Wirtschaft anhand des realen Bruttoinlandprodukts:

Constant Gross Domestic Product
Grafik 1: Eigene Darstellung | Daten aus World Economic Outlook Database April 2015.

An dieser Entwicklung sehen wir, dass Griechenland eben nicht auf dem richtigen Wege ist, ein märchenartiges Mantra das deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble gebetsmühlenartig immer wieder wiederholt. Dies wird noch ersichtlicher, wenn wir in der folgenden Grafik 2 die steigenden Arbeitslosenzahlen seit 2007 betrachten – eine weitere Folge der von Deutschland maßgeblich diktierten Austeritätspolitik.

Unemployment Rate
Grafik 2: Eigene Darstellung | Daten aus World Economic Outlook Database April 2015.

Hier wird ersichtlich, dass mit Beginn der Sparpolitik die Arbeitslosigkeit in Griechenland regelrecht nach oben schnellt und im Jahr 2013 sogar 27,5 Prozent beträgt. Im November 2014 lag die Erwerbslosigkeit unter Jugendlichen saisonbereinigt sogar bei 49,8 Prozent, das bedeutet, fast jeder zweite griechische Jugendliche war arbeitslos. An die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf das griechische Sozial- und Rentensystem möchte man bei diesen Werten gar nicht denken.

Viel dramatischer aber noch: Grafik 3 zeigt, dass der prozentuale Anteil der Staatsverschuldung am griechischen Bruttoinlandsprodukt, also die Staatsschuldenquote, ab der zweiten Jahreshälfte 2007 gewaltig angestiegen ist. Und zwar so gewaltig, dass sie jenseits der durch die EU-Konvergenzkriterien festgelegten 60 Prozent-Marke liegt. Interessant, dass auch Deutschland diese Marke seit Jahren um Längen verfehlt.

General Government Gross Depts
Grafik 3: Eigene Darstellung | Daten aus World Economic Outlook Database April 2015.

Doch zurück zu Griechenland: Die Staatsschuldenquote explodiert trotz auferlegter Sparpolitik – oder gerade wegen eben jener: Der Staat trägt in jedem Land der Welt den größten Anteil am Bruttoinlandsprodukt, ergo die Staatsquote liegt in den meisten Ländern bei etwa 50%. Reduziert der Staat nun in großem Ausmaß seine Ausgaben, bedeutet dies zugleich einen großen Einkommensverlust bei der Bevölkerung. Dies geht mit einem Rückgang der Binnennachfrage einher, der sich wiederum auf das Bruttoinlandsprodukt auswirkt, so dass die Wirtschaft letztlich in eine Rezession zu fallen droht und der Staat immer mehr spart. In dieser deflationären Spirale, in der sich Defizite und sinkende Wachstumsraten gegenseitig verstärken, befindet sich derzeit Griechenland. Da aber der griechische Staat Ausgaben wie die Finanzierung des Renten- und Sozialsystems tätigen muss, damit das Gesellschaftsgefüge nicht vollends zusammenbricht, verschuldet er sich immer weiter bei den Gläubigerstaaten. Eine konstruktive Reformpolitik im Rahmen europäischer Solidarität sieht anders aus.

Was nicht ist: griechische Luxusrenten

Ein weiteres medial propagiertes Märchen ist die Lüge von den ausufernden griechischen Luxusrenten. So heißt es etwa auch in Spiegel TV vom 25. Februar:

Die griechische Staatskasse wird von ungewöhnlich generösen Rentenzahlungen ausgezehrt. Fast hundert Prozent des letzten Gehalts winken. Bei solchen Zahlen müssen deutsche Renter – mit weniger als die Hälfte – ganz tapfer sein.

Doch tatsächlich sieht die Realität ein klein wenig anders aus. Griechische Staatsbeamte etwa gehen nicht mit 97 Prozent ihres letzten Gehaltes (wie zuvor behauptet), sondern mit 97 Prozent ihres letzten Grundgehaltes in Rente. Dies entspricht etwa 55 Prozent ihres letzten Monatseinkommens, die restlichen 42 Prozent bestehend aus staatlichen Zahlungen wie Weihnachts- und Ostergeld, die in der Rente jedoch nicht mehr enthalten sind. In Deutschland spricht man von Altersarmut, wenn ein Rentner weniger als 600 Euro an monatlichen Zahlungen erhält. Die griechischen Durchschnittsrenten liegen laut Alexandros Stefanidis bei 617 Euro, also knapp über der Armutsgrenze. Im Vergleich dazu ist die Rente in vielen Staaten Mittel- und Nordeuropas fast doppelt so hoch, in Deutschland beträgt die Durchschnittsrente aktuell etwa 1.176 Euro.

Was nicht war: Deutschlands weiße Weste

Die von der Troika vertretene Austeritätspolitik fußt auf der Annahme, dass Deutschland mit den Sozial- und Arbeitsmarktreformen des Jahres 2005 („Agenda 2010“) vorbildlich gehandelt und ihnen seine aktuell herausragende Stellung im internationalen Wirtschaftssystem zu verdanken hat. Die anderen Staaten der Eurozone jedoch, insbesondere die Mittelmeer-Anreiner haben diese Politik nicht umgesetzt und haben daher – in den Augen der Befürworter der Sparpolitik – alles falsch gemacht, was zu einer schlechteren Position im globalen Kampf um Wettbewerbsanteile geführt hat.

Betrachtet man jedoch die Entwicklung der Reallöhne in Deutschland seit 2005 als Maß der Kaufkraft des Binnenmarktes, so stellen wir fest, dass diese in Relation zu vielen anderen Staaten der Eurozone stagnieren. Mit diesen im internationalen Vergleich niedrigen Lohnkosten sichert man sich Marktanteile, da niedrigere Löhne den Preis der eigenen Exporte gesenkt und diese dadurch auf dem Weltmarkt verstärkt nachgefragt werden. Im Gegenzug stieg in anderen Staaten der Import deutscher Güter und der Export eigener Güter sank. Die Auswirkungen dieser auch als interne Abwertung bezeichneten Politik stellt auch die EU-Kommission 2013 in einem Gutachten fest, wenn sie schreibt:

Deutschland weist makroökonomische Ungleichgewichte auf, die Überwachung und politisches Handeln erfordern. Insbesondere die Leistungsbilanz verzeichnet beständig einen sehr hohen Überschuss, der eine starke Wettbewerbsfähigkeit spiegelt, während ein hoher Anteil der Ersparnisse im Ausland investiert wurde. Sie zeigt ferner an, dass das Inlandswachstum schwach geblieben ist und die Ressourcenallokation möglicherweise nicht effizient war. Obwohl die Leistungsbilanzüberschüsse keine Risiken bergen, die großen Defiziten ähneln, verdienen Ausmaß und Dauer des deutschen Leistungsbilanzüberschusses größere Aufmerksamkeit. Die Notwendigkeit zu handeln, um das Risiko abträglicher Effekte auf das Funktionieren der inländischen Wirtschaft und das Eurogebiet zu vermindern, ist angesichts der Größe der deutschen Volkswirtschaft von besonderer Wichtigkeit.

Um es drastisch auszudrücken: Deutschland betreibt seit geraumer Zeit eine sog. Beggar-thy-Neighbor-Politik, indem es Jahr um Jahr immer neue Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaftet. Dabei verstößt die Bundesrepublik gegen das deutsche Stabilitätsgesetz von 1967, welches als eines seiner vier gleichrangigen Ziele ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht vorschreibt.

Manch einer mag sich wundern, diese Position ist im ökonomischen Diskurs keineswegs eine Minderheitenmeinung. Insbesondere die Nobelpreisträger Paul Krugman und Joseph Stiglitz vergleichen die derzeitige Situation in Griechenland mit der während der Großen Depression der Dreißiger Jahre, die erst durch das allgemeine Aufrüsten am Vorabend des Zweiten Weltkriegs beendet werden „konnte“, da selbiges als riesiges Konjunkturprogramm wirkte. Welch schaurige Gedankengänge einem da doch in den Sinn kommen.

Was sein soll: ein solidarischer Integrationsprozess

Um noch einmal klar zu stellen: Ich bestreite nicht, dass der griechische Staat viele Jahre über seine Verhältnisse gelebt hat. Aus ökonomischer Sicht war die Aufnahme Griechenlands in die Eurozone ein Fehler, gegen den sich übrigens Gianis Varoufakis damals vehement ausgesprochen hat. Darüber hinaus existieren gravierende strukturelle Probleme bezüglich der Wirtschafts- und auch Finanzverwaltung Griechenlands. Doch zu einem großen Teil trägt die insbesondere von Deutschland aus betriebene Austeritätspolitik an dieser Misere bei. Die Rezension, in der sich die griechische Wirtschaft seit einigen Jahren befindet, ist das Kernproblem. Zur Lösung dieses Problems ist es wesentlich, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nachhaltig zu stimulieren. Dabei sollte auch über einen New Deal, wie von Varoufakis1VAROUFAKIS, Gianis; HOLLAND, Stuart; GALBRAITH, James K. (2015): Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise, Verlag Antje Kunstmann GmbH, München. vorgeschlagen, diskutiert werden.

Die deutsche Politik muss ihrerseits Druck auf die inländischen Tarifparteien ausüben, sofern ihr dies durch den engen rechtlichen Rahmen möglich ist, um die deutschen Reallöhne auf ein angemessenes Niveau zu heben. Genauso kann die in der Bundesrepublik erfolgreich durchgeführte Sparpolitik eben aufgrund der übermäßigen Exportgewichtung der deutschen Wirtschaft eben nicht als Vorbild für andere EU-Staaten gelten – und schon gar nicht für die strukturell schwachen Länder. Da hilft es auch nicht, wenn Angela Merkel immer und immer wieder betont, dass jeder zugleich den Haushalt konsolidieren und die heimische Wirtschaft ankurbeln kann, vorausgesetzt man setzt die richtigen Reformen um.

Aus der supranationalen Perspektive ist es an der Zeit, dass sich die Entscheidungsträger aller Staaten zu einem dynamischen Einigungsprozess in Europa bekennen. Möchte die Bundesrepublik Deutschland die von Herfried Münkler skizzierte Rolle der Macht der Mitte2MÜNKLER, Herfried (2015): Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, edition Körber-Stiftung, Hamburg. einnehmen, dann gehört dazu gewaltiges politisches Fingerspitzengefühl, speziell im Umgang mit den Staaten in der Peripherie. Als die herausragende Wirtschaftsmacht der Eurozone trägt Deutschland zudem, nicht nur aus historischen Gründen, sehr viel Verantwortung für den Zusammenhalt und die weitere Integration der Europäischen Union. Betrachtet man die vielen, in ihrem Ursprung nicht ökonomischen Krisen der letzten Jahre, die russische Ukraine-Politik etwa, die Flüchtlingsströme nach Europa oder der sogenannte Islamische Staat in Syrien und dem Irak, aber auch ein sich immer weiter abschottendes, konservatives Regime in der Türkei, dann finden diese vornehmlich vor der Haustür Europas statt. Diese Krisen verlangen eine starke, natürlich demokratisch legimitierte EU. Und kein Europa um seiner selbst willen.

Referenzen

Referenzen
1 VAROUFAKIS, Gianis; HOLLAND, Stuart; GALBRAITH, James K. (2015): Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise, Verlag Antje Kunstmann GmbH, München.
2 MÜNKLER, Herfried (2015): Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, edition Körber-Stiftung, Hamburg.

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