Zwischentöne zum Krieg, zugleich ein Appell für mehr Gelassenheit

Eigentlich unglaublich: Im Frühjahr 2022 herrscht wieder Krieg in Europa. Nicht zum ersten Mal seit 1945, trotzdem machen die Bilder aus der Ukraine fassungslos. Der russische Angriffskrieg ist als massive Verletzung des Völkerrechts nicht akzeptabel. Jeder Krieg ist aber stets auch eine Niederlage der Diplomatie. Möglicherweise hätte die russische Intervention – etwa durch eine ehrliche Initiative des Westens – verhindert werden können. In der innenpolitischen Auseinandersetzung über diesen Krieg irritieren jedoch noch weitere Aspekte.

Wen es verstört,

dass eine „vom Völkerrecht kommende“ Ministerin des Äußeren einer vormals friedensbewegten Partei, die dereinst im Wahlkampf Waffenlieferungen in Krisengebiete ablehnte, nun die Lieferung schweren Geräts in ein akutes Kriegsgebiet forciert,

dass ein verhinderter Verkehrsminister ebendieser einst friedensbewegten Partei durch die Lieferung schwerer Waffen kühn einen dritten Weltkrieg zu vermeiden sucht, dadurch jedoch faktisch die direkte militärische Konfrontation des atlantischen Bündnisses mit der überfallenden Atommacht risikiert,

dass der am wenigsten ungewollte Kandidat, nunmehr Kanzler der vormals größten Arbeiterpartei eine extreme Steigerung des Verteidigungsetats verkündet und damit den antimilitaristischen, auf Dialog und Friedenswahrung angelegten Modus der alten Bundesrepublik verlässt,

dass ein einflussreicher Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses ebendieser einstigen Arbeiterpartei in Zeiten wachsenden Inflationsdrucks und ohne Rücksicht auf heimische Arbeitsplätze moralisierend ein sofortiges Rohstoffembargo fordert,

dass ein offenkundig politisch des Extremismus Verdächtiger, zugleich oberster Beauftragter des überfallenen Staates der deutschen Öffentlichkeit seine Agenda diktiert, die Regierung vor sich her treibt und dabei jegliche diplomatische Zurückhaltung vermissen lässt,

dass der ad nauseam propagierte, selbstgerechte Neobellizismus deutscher Leitmedien nunmehr grundsätzlich auch die Entspannungspolitik unter Willy Brandt in Frage stellt, die maßgeblich zur Überwindung des Ost-West-Konflikts beigetragen hat,

dass die deutsche, respektive die europäische Sicherheitspolitik auch dreißig Jahre nach dem Ende dieses Ost-West-Konflikts nicht in der Lage ist, eigene Interessen abseits derer des transatlantischen Bruders zu formulieren,

dass die selbst defizitär legitimierte Präsidentin eines supranationalen Organs dem überfallenen, demokratisch mindestens ambivalenten Oligarchenstaat eine Mitgliedschaft im ohnehin schon unregierbaren europäischen Verbund anträgt,

wen all dies und noch mehr verstört,

der sei eindringlich an die folgende Zeilen aus einem Brief Rosa Luxemburgs an Luise Kautsky erinnert:1Nachzulesen in: KAUTSKY, Luise, Rosa Luxemburg. Briefe an Karl und Luise Kautsky (1896–1918), Berlin 1981, S. 192 f.

Dein Kopf ist voller Sorgen um die schiefgehende Weltgeschichte und Dein Herz voller Seufzer über die Erbärmlichkeit der – Scheidemänner und Genossen. Und jeder, der mir schreibt, stöhnt und seufzt gleichfalls. Ich finde nichts lächerlicher als das. Begreifst Du denn nicht, dass der allgemeine Dalles viel zu groß ist, um über ihn zu stöhnen? Ich kann mich grämen, wenn mir die Mimi krank wird, oder wenn Dir etwas fehlt. Aber wenn die gesamte Welt aus den Fugen geht, da suche ich nur zu begreifen, was und weshalb es passiert ist und habe ich meine Pflicht getan, dann bin ich weiter ruhig und guter Dinge. Ultra posse nemo obligatur. (…) Schau z.B. wie ein Goethe mit kühler Gelassenheit über den Dingen stand. (…) Und wenn Du etwa sagst: Goethe war eben kein politischer Kämpfer, so meine ich: Ein Kämpfer muss erst recht über den Dingen zu stehen suchen, sonst versinkt er mit der Nase in jedem Quark.

Referenzen

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1 Nachzulesen in: KAUTSKY, Luise, Rosa Luxemburg. Briefe an Karl und Luise Kautsky (1896–1918), Berlin 1981, S. 192 f.

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