AfD, FPÖ, der Front National, die Identitäre Bewegung, die Sezession, die Blaue Narzisse, die Junge Freiheit, das compact-Magazin und das Institut für Staatspolitik – so vielfältig die Neue Rechte auch ist, eins haben sie alle gemein: Metapolitik, also Politik im Sinne eines „Kulturkampfes“ oder einer „Kulturrevolution von rechts“ zählt zu ihren grundlegenden Strategien.1WEISS, Volker (2017): Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart, Klett-Cotta. Gemäß Charles Champetier und Alain de Benoit, dem französischen Vordenker der Neuen Rechten, entwickle sich Geschichte generell „zwar aus dem Willen und dem Handeln der Menschen, doch dieser Wille und dieses Handeln äußern sich immer im Rahmen einer bestimmten Zahl von Einstellungen, Glaubensüberzeugungen und Vorstellungen, die ihnen einen Sinn geben und lenken.“2DE BENOIT, Alain; CHAMPETIER, Charles: Manifest. Die Nouvelle Droite des Jahres 2000. In DE BENOIT, Alain (1999): Aufstand der Kulturen. Berlin, Junge Freiheit. Mithin sehen sich Vertreter der Neuen Rechten in einem Kampf um kulturelle Vorherrschaft, um eben diese Rahmenbedingungen.
Ganz wunderbar lässt sich dieses kulturelle Hegemoniestreben in sozialen Netzwerken beobachten. Bei jeder Gelegenheit wird dort die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland angezweifelt. Deutschland sei ein Verwaltungskonstrukt der alliierten Siegermächte, heißt es da, die BRD GmbH, geschaffen, um das deutsche Volk zu diskriminieren. Demgegenüber sei die Verfassung des Deutschen Reichs von 1919 noch immer gültig. Irgendwann kommt er dann immer: Allen verfassungsrechtlichen Argumenten zum Trotz beharren einige Vertreter der Neuen Rechten darauf, dass die Bundesrepublik gar keine Verfassung besitzt. Denn warum heißt es „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ und nicht „Verfassung für die deutsche Bevölkerung“?
Klar, das Grundgesetz war zunächst ein Provisorium. Die so genannten Frankfurter Dokumente der Alliierten enthielten die Aufforderung an die damaligen Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer, eine „verfassungsgebende Versammlung“ einzuberufen und eine „demokratische Verfassung“ zu erarbeiten. Der von den Länderparlamenten eingesetzte Parlamentarische Rat erarbeitete daraufhin ein Grundgesetz für den neuen, provisorischen Weststaat. Auf hochtrabende Instrumente der pouvoir constituant, also der verfassungsgebenden Gewalt, wie Nationalversammlung oder Volksabstimmung, wurde bewusst verzichtet. Die damaligen Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Bundesländer wollten nicht die Verantwortung für die beginnende Teilung Deutschlands übernehmen.
Auch der Begriff des Staatsvolks wird im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt. Denn jetzt entscheidet nicht mehr die ethische Zugehörigkeit über die Mitgliedschaft zur „deutschen Volksgemeinschaft“. Wer Deutscher ist definiert nach Art. 116 GG allein der rechtliche Status des Staatsbürgers.
Die Verfassungsväter und -mütter, die im Jahr 1949 das Grundgesetz erarbeiteten, wollten der Bundesrepublik auch die staatliche Verantwortung für diejenigen übertragen, die nicht im Geltungsbereich des westdeutschen Staates lebten. Demnach gab es also ein tatsächliches Staatsvolk in Westdeutschland und ein eigentliches Staatsvolk, das auch die Bürgerinnen und Bürgern der DDR sowie die Deutschen in den ehemaligen Ostgebieten einschloss. So war es im Jahr 1990 dann auch nur ein in sich logischer Schritt, den Geltungsbereich des Grundgesetzes auf das Territorium der DDR auszudehnen.
Nach der Wiedervereinigung gab es dann auch keinen Grund, das Grundgesetz, dass sich über mehrere Jahrzehnte als eine stabile politische Ordnung erwiesen hat, abzulösen. Damit wurde aus dem Provisorium ein Definitivum, aus dem Grundgesetz eine Verfassung für alle Deutschen.3BENDA, Ernst (1990): Das letzte Wort dem Volke, Zeit, online am 06. Mai 2017. Daran ändert auch Art. 146 GG nichts. Dort heißt es:
„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Zwar ist dieser Artikel das transitorische Element des Grundgesetzes, es steht also sinnbildlich für das Grundgesetz als Provisorium. Sinn und Zweck von Art. 146 GG war es allerdings nicht, den Verfassungscharakter des Grundgesetzes in Frage zu stellen, sondern wiederum auch die Bürgerinnen und Bürger der DDR einzubeziehen. Mithin liegt die Betonung auf „für das gesamte deutsche Volk“. Artikel 146 bedeutet daher heute lediglich, dass das Grundgesetz durch eine andere Verfassung abgelöst werden kann, aber keinesfalls abgelöst werden muss.
Aber warum heißt das Grundgesetz denn nun nicht Verfassung? Es mag überraschend sein, aber die Antwort darauf ist ziemlich simpel. Das Heilige Römische Reich bildete den Herrschaftsbereich der römisch-deutschen Kaiser seit dem Spätmittelalter. Zwar sahen sich alle deutschen Kaiser immer als legitime Rechtsnachfolger der römischen Kaiser, es gelang ihnen jedoch nie, dem Herrschaftsgebiet einen vollends nationalstaatlichen Charakter zu geben. Dazu waren sowohl die weltlichen als auch die geistlichen Landesfürsten und die Freien Reichsstädte zu sehr auf ihre eigene territoriale Souveränität bedacht. Dennoch zeichnete sich ab dem 12. Jahrhundert eine Tendenz ab, die Reichsidee zu reformieren, politisch weiter zu einen und einen rechtlichen Rahmen für politisches Handeln innerhalb des Reichs zu schaffen. Mithin entstanden über Jahrhunderte hinweg Gesetzestexte und Rechtsvorschriften, die fortan zur Reichsverfassung gezählt wurden. Diese Gesetze wurden als lex fundamentalis – als staatsgrundlegendes Gesetz/Grundgesetz – bezeichnet und hatten Verfassungsrang. Beispielsweise regelte die Goldene Bulle von 1356 die verfassungsrechtlichen Modalitäten zur Wahl der römisch-deutschen Kaiser. Weitere bedeutende Grundgesetze des Heiligen Römischen Reichs waren unter anderen:
- das Wormser Konkordat (1122)
- der Mainzer Landfrieden (1235)
- der Ewige Landfrieden (1495)
- der Augsburger Religionsfrieden (1555)
- der Westfälische Frieden (1648)
Mit dem letzten Reichs-Grundgesetz, dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803, wurde die Grundlage für eine weitgehende Säkularisation und Mediatisierung des Reichs geschaffen. Dies bedeutete in der Folge – mit der Gründung des Rheinbunds und der damit verbundenen territorialen Neustrukturierung – das Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation im Jahr 1804. Grundgesetz ist also nur ein anderes Wort für Verfassung, ähnlich wie der Begriff Freistaat ein Synonym für Republik ist.
Offen ist, ob die Verfassungsväter und -mütter diese begriffliche Kontinuität im Auge gehabt haben. Unzweifelhaft schließt das Grundgesetz somit allerdings an deutsche Verfassungshistorie an. Überdies unterscheidet sich der Begriff Grundgesetz auch nicht hinsichtlich der Staatlichkeit von dem der Verfassung, auch wenn letzterer mitunter natürlich emotionaler mit der Nationalstaatsidee verbunden ist.4VORLÄNDER, Hans (2008): Warum Deutschlands Verfassung Grundgesetz heißt. Bundeszentrale für Politische Bildung/bpb.
Es ist wichtig, dies in Diskussionen klarzustellen, damit für rechte Erklärungsmuster kein Raum bleibt. Nur mit den richtigen Argumenten kann man dem angeblichen Kampf um das Vorpolitische, dem Hegemoniestreben der Neuen Rechten, erfolgreich entgegentreten.
Too long, didn’t read: Das Grundgesetz schließt begrifflich an die Verfassungshistorie des Heiligen Römischen Reichs an. Demnach ist Grundgesetz nur ein anderes Wort für Verfassung, ähnlich wie der Begriff Freistaat ein Synonym für Republik ist.
Referenzen
↑1 | WEISS, Volker (2017): Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart, Klett-Cotta. |
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↑2 | DE BENOIT, Alain; CHAMPETIER, Charles: Manifest. Die Nouvelle Droite des Jahres 2000. In DE BENOIT, Alain (1999): Aufstand der Kulturen. Berlin, Junge Freiheit. |
↑3 | BENDA, Ernst (1990): Das letzte Wort dem Volke, Zeit, online am 06. Mai 2017. |
↑4 | VORLÄNDER, Hans (2008): Warum Deutschlands Verfassung Grundgesetz heißt. Bundeszentrale für Politische Bildung/bpb. |