In diesem Tagen wurde mir wieder bewusst, in welch rasanter Geschwindigkeit sich die politische Lage generell verändern kann. Noch nicht einmal ein Jahr ist es her, dass im südrussischen Sotschi die XXII. Olympischen Winterspiele ausgetragen wurden. Russland und insbesondere die Politik Vladimir Putins standen auch schon damals in der Kritik. Namhafte westliche Politiker wie der französische Staatspräsident Francois Hollande und der deutsche Präsident Joachim Gauck boykottierten das sportliche Großereignis u.a. mit Verweis auf die menschenrechtliche Situation in Russland. Das Verhältnis zwischen dem Westen, insbesondere das der EU und Russland, konnte man also auch damals schon nicht als durchgehend harmonisch bezeichnen. Dennoch hätten selbst die pessimistischsten Beobachter einen so tiefgreifenden Wandel in den bi- und multilateralen Beziehungen beider Macht(-Blöcke) wohl kaum für möglich gehalten.
Was ist innerhalb des letzten Jahres passiert?
Im Zuge der Krise in der Ukraine verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Russland und der EU in einem dramatischen Ausmaß. Das ukrainisch-europäische Assoziierungsabkommen verstärkten die Befürchtungen der politischen Elite Russlands, der Westen würde einmal mehr die Machtsphäre Russlands verletzten, welche im Zuge der Auflösung des Warschauer Pakts und der Osterweiterung der NATO ohnehin schon geschrumpft ist. Das Russland unter Vladimir Putin betrachtet die Staaten in seiner Peripherie, wie Moldawien, Georgien und eben die Ukraine immer noch als klassisch russisches Einflussgebiet. Nicht ohne Grund sehen weite Teile der russischen Bevölkerung dagegen in Michail Gorbatschow den Hauptschuldigen für den Abstieg Russlands zu einer gewöhnlichen Macht mit (wenn überhaupt) regionalen Ansprüchen. Gerade aus der Perspektive des strukturellen Realismus kann man also zunächst Verständnis für die russische Position aufbringen.
Anfangs bemühte sich die politische Elite in Moskau, die prowestlichen Kräfte auf dem Maidan in Kiew als faschistisch-nationalistisch zu verunglimpfen. In Wirklichkeit steckt jedoch vor allem in der Politik des Kremls ein zutiefst völkisches Element. Vladimir Putin selbst sieht in der sogenannten Kiewer Rus, die Keimzelle der russischen Zivilisation.
Im Zuge dieser Politik, auch sicherlich mit einer gewissen Symbolkraft (Stichwort: Russische Schwarzmeerflotte), unterzeichnete Vladimir Putin im März 2014 den Beitrittsvertrag der Krim zur Russischen Föderation. Faktisch handelt es sich um eine Annexion, also eine erzwungene, einseitige Eingliederung eines fremden Hoheitsgebietes, die aus dem Gebot der territorialen Unversehrtheit im Rahmen des Gewaltverbotes gemäß Artikel 2 Ziff. 4 UN-Charta völkerrechtswidrig sind. Etwaigen alternativen Auffassungen, etwa es handle sich bei dem Vorgehen auf der Krim und in den autonomen Gebieten in der Ostukraine um die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker (wie sie auch von Putin u.a. im Interview mit dem WDR vertreten wird) sind meines Erachtens nicht haltbar, da die Abstimmung nicht vereinbar mit der ukrainischen Verfassung ist. Außerdem existiert bis zum heutigen Tage gerade im Hinblick auf die Friendly Relations Declaration keine völkerrechtlich kodifizierte oder anderweitig akzeptierte Norm, die ein „Recht auf Sezession“ bejaht.
Viel spannender, als die Frage, wer für diesen Konflikt die Verantwortung trägt (hierbei spielen übrigens die USA und die EU eine wichtigere Rolle, als sie letztendlich zugeben), finde ich die daraus entstehenden Folgen für die internationalen Beziehungen.
Wie soll die Europäische Union gegenüber Russland reagieren?
In enger Abstimmung mit den Vereinigten Staaten hat die EU alsbald einen dreistufigen Sanktionskatalog beschlossen. Diese wirtschaftlichen Sanktionen wirken sich anscheinend jetzt, ein gutes halbes Jahr später, langsam aus. Keine Frage, die Sanktionen sind für sich genommen durchaus gerechtfertigt. Doch es braucht einer Doppelstrategie bestehend aus Sanktionen und einem klaren Gesprächsangebot, um zur Lösung der Ukraine-Krise beitragen zu können. Bei letzteren ist der Ruf nach schärferen Sanktionen gefordert, kontraproduktiv. Und mit Sicherheit wünsche ich mir keine neue „Politik der Abschreckung“ zurück, wie zuletzt von Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung gefordert.
Im öffentlichen Diskurs sollte gerade aus europäischer Sicht zudem mehr Verständnis für die russische Situation aufgebracht werden, ohne dass man gleich polemisch als „Putinversteher“ geschmäht wird. Der russische Präsident ist sicherlich kein „lupenreiner Demokrat“, wie Gerhard Schröder hartnäckig behauptet, und viele seiner außen- und innenpolitischen Positionen sind mit Recht zu kritisieren. Auch möchte ich keineswegs beschönigen, dass mit Russland ein Staat einmal mehr das internationale Recht gebrochen hat. Dennoch muss man mittelfristig die Realität anerkennen: zumindest die Krim wird für die Ukraine verloren sein.
Der Theorie des sozialen Konstruktivismus zu Folge definieren sich die internationalen Beziehungen und mit ihnen die Außenpolitik der einzelnen Staat über die entsprechenden Identitäten. Diese Rollenbilder entstehen in Wechselwirkung und die westliche Interpretation der russischen Identität ist gerade im Begriff sich nachhaltig zu verändern: Das Vorgehen in der Ukraine und die zahlreichen Militärmanöver an den NATO-Grenzen zeichnen das Image eines aggressiven, in Teilen sogar imperialistischen Großmacht Russland – eine Identität, die eigentlich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs schon vergessen schien. Da Russland kurzfristig (zumindest unter der Führung Putins) in diesem Rollenbild verharren wird und eine kritische Hinterfragung dessen vorerst wohl nicht stattfinden wird, liegt es am Westen, einen Schritt auf Russland zuzugehen. Zumindest darf von westlicher Seite kein Öl ins Feuer dieses-Konflikts gegossen werden.
Eine von den USA emanzipierte Außenpolitik der EU, welche sich auch ihrer regionalen Verantwortung bewusst ist, muss weiterhin das Gespräch mit der russischen Führung suchen. Die zuständigen Politiker müssen begreifen, dass eine Lösung des Ukraine-Konflikts nur unter Einbindung der Russischen Föderation möglich ist. Michail Gorbatschow sprach damals vom „gemeinsamen Haus Europa“. Das Fundament dieses Hauses muss nun neu gegossen werden!