Im Schatten der Platanen: Das Lied vom Zweifel

Ein Mann sitzt an einem Dorfplatz im Midi, trinkt Pastis – und zweifelt. Freilich nicht an der Welt, sondern an sich selbst. Vielleicht beginnt linkes Denken genau hier: bei jenem Zweifel, um den der Song Tango du Midi des Liedermachers Franz Josef Degenhardt kreist. Degenhardts Selbstkritik ist nicht abstrakt formuliert, sondern konkretisiert sich im Wandel der Wahrnehmung des lyrischen Ichs. Der mediterrane Dorfplatz scheint zunächst ein Ort des einfachen, gegenwärtigen Glücks zu sein – bis sich die Gedenkmauer und eine deutsche Touristenladung dazwischenschiebt. Vergangenheit und Gegenwart geraten merklich in Konflikt. Mithin verändert sich die Stimmung des Erzählers von Strophe zu Strophe: aus teilnahmsloser Betrachtung wird sarkastische Distanz, sodann wütende Empörung – und schließlich nachdenkliche Irritation.

Doch das Lied verzichtet auf Gewissheit: Statt moralisierender Hybris macht es Widersprüche sichtbar. Die Witwe erscheint zunächst als Erbin der Schuld, wird später zur Hüterin des Gedenkens. Degenhardt vollzieht eine dialektische Bewegung im weiteren Sinne: keine Auflösung, keine Synthese, dennoch Fortschritt durch Widerspruch. Der Zweifel am eigenen Vorurteil erweist sich dabei als Ausdruck einer Haltung, nicht als Schwäche.

Die Haltung der dörflichen Gemeinschaft indes bleibt uneindeutig: abgeklärt, abgestumpft oder schlicht resigniert? Diese offene Ambivalenz ist die politische Essenz des Liedes. Sie entzieht sich einer Gegenwart, die auf rasche Zuschreibungen, identitäre Distinktion und Polarisierung angewiesen ist. Degenhardt besteht auf dem Widerspruch – als Gestus einer Linken, die nicht Recht haben will, sondern verstehen. Genügt das? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. À la vôtre – avec un Pastis!

Die Place im Dorf um Mittag mitten im Midi:
Das Licht gesprenkelt unter den Platanen,
und der Brunnen plätschert,
und die Kugeln klacken beim Pétanque.
Das ist ein Film, der ist uralt,
und der läuft immer noch.
Noch immer hocken sie an Tischen vor der Bar:
der Bäcker, Schäfer, Lehrer, Garagist,
und alle reden übers Wetter
und den Wein für dieses Jahr
und dass sich auch seit Mitterrand noch nichts geändert hat.
Die Alte, krumm gebuckelt,
unterm Arm ihr täglich Brot,
schleicht in ihr Haus.
Um sie herum fahren die Kinder Tour de France.
Der fou du village läuft immer lachend hinterher.

Und ich, ich sitz
beim zweiten Glas Pastis.

Die Flöte aus dem Weinberg bläst mein Bruder Pan.
Zur Sonnenhymne fallen die Zikaden ein.
Die Zeit bewegt sich langsam seitwärts und nicht mehr nach vorn.
So wird es sein, wenn die Geschichte mal zu Ende ist.
Bis dahin lies die fünfzehn Namen an der Wand.
Der Mauerwand, die vor dem Oleander steht.
Die Wand, vor vierzig Jahren war die vollgespritzt mit Blut,
als die SS hier fünfzehn Männer des Maquis erschoss.
Ob Zeit die Wunden heilt, auch wenn sie steht, fragt hier kein Mensch.
Und alle schauen auf den Bus aus meinem Land, der plötzlich hält.
Auf einmal geht sie wieder los, die alte Zeit.

Und ich trink schnell
ein drittes Glas Pastis.

Die Place im Dorf um Mittag mitten im Midi wird voll.
Der Reiseleiter gibt nur zehn Minuten für das Knipsen.
„Dies hier,“, sagt er, „typisch, sehen wir noch oft.“
Man ist diskret und ist gepflegt und ist was Besseres:
ein Kunstverein, der sucht Romanik mitten im Midi.
„Die Kirche hier im Dorf soll karolingisch sein.“
Die Witwe sagt es streng und sieht dann über mich hinweg,
und ich denk, sie ist ganz genau der Nazi-Witwe-Typ.
Die reisen auf den Spuren ihrer Männer,
die die Welt in Scherben schlugen.
Dafür kriegen sie Pensionen.
Warum macht bloß die Geschichte, fragst du,
diesen schlechten Witz?

Und ich trink wütend
noch ein Glas Pastis.

Die Place im Dorf um Mittag mitten im Midi wird leer.
Der Kunstverein besichtigt diese Kirche,
und die Leute aus dem Dorf begeben sich zu Ihrem Mahl.
Der Lehrer bleibt und trinkt
und gähnt über der Humanité.
Und über diesen leeren Platz
kommt sie allein, die Witwe,
in den Händen rote Rosen.
Es sind fünfzehn,
und sie legt die Rosen einzeln an die Wand,
die Wand, an der untereinander fünfzehn Namen stehn.
Die Stille hat ein Echo,
wenn Zikaden plötzlich schweigen,
und die Flöte aus dem Weinberg
bläst auf einmal einen Tango,
diesen wundersamen Tango du Midi.

Und ich trink irritiert
noch ein Pastis.

P.S.: Ein sehenswerter Auftritt von Franz Josef Degenhardt – inklusive kurzem Prolog und einer Interpretation seines Liedes Tango du Midi – ist in der Kultursendung Karussel des Schweizer Fernsehens vom 24. Oktober 1984 zu sehen. Die Folge ist in der Mediathek des SRF abrufbar.

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