Philosophen lieben den Staat – zumindest als Idee. Daniel-Pascal Zorn macht da keine Ausnahme. In seiner Kolumne „Die Idee des Staates und die Freiheit“ bemüht sich der Philosoph um eine ideengeschichtliche Verteidigung der liberalen Demokratie. Der Text ist rhetorisch gewandt, historisch belesen und argumentativ durchdacht. Und doch bleibt ein schaler Beigeschmack. Denn was auf den ersten Blick wie eine wohltuend differenzierte Rehabilitierung staatlicher Ordnung erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als normative Affirmation eines Staatsbegriffs, der die politisch-ökonomischen Realitäten spätkapitalistischer Gesellschaften weitgehend ausblendet. Zorn verteidigt die liberale Demokratie als jene staatliche Form, die Freiheit nicht beschränkt, sondern erst ermöglicht – und setzt damit implizit die Idee von Staatlichkeit mit der Bedingung der Freiheit gleich. Diese Sichtweise ist historisch plausibel, insbesondere mit Blick auf die Errungenschaften des modernen Rechtsstaats. Gleichwohl bleibt offen, ob die liberale Demokratie über den Schutz individueller Rechte hinaus auch als Instrument gesellschaftlicher Transformation in einem kapitalistisch strukturierten System dienen kann.
Ideengeschichte ohne Materialismus
Zorn zieht einen weiten ideengeschichtlichen Bogen – von Platon über Hobbes und Rousseau bis zu Hegel1Georg W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1999, S. 207 f. und Ernst-Wolfgang Böckenförde –, um zu zeigen, wie der moderne Staat als Rechtsordnung entstand, die individuelles Handeln durch gesetzlich gesicherte Verfahren vermittelt. Freiheit, so seine These, sei nicht vorstaatlich, sondern das Resultat historischer Institutionalisierung. Zutreffend weist Zorn auch darauf hin, dass auch linke Bewegungen historisch Teil eines politischen Liberalismus waren, der sich gegen autokratische Herrschaft und für demokratische Emanzipation wandte.2Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962; Habermas zeigt, dass die bürgerliche Öffentlichkeit und die daraus erwachsenen emanzipatorischen Bewegungen historisch gegen autokratische Herrschaftsstrukturen gerichtet waren. Diese Argumentation besitzt Tiefe – doch ihre idealistische Verengung blendet die materiellen Bedingungen dieser Entwicklung aus. Der Staat erscheint bei Zorn als Produkt politischer Vernunft – nicht als Form, in der sich ökonomische Herrschaft institutionell verfestigt.
Die sozialen Klassenverhältnisse, aus denen moderne Staatlichkeit hervorging, streift Zorn zwar – etwa mit Blick auf Adel, Bürgertum und Arbeiterklasse –, doch bleibt seine Darstellung historisierend und oberflächlich. Stattdessen beschreibt er die Entwicklung moderner Staatlichkeit vor allem als Herausbildung einer „Technokratie der Effizienz“ – ein Begriff, der strukturelle Herrschaftsverhältnisse depolitisiert und in funktionale Verwaltungslogik überführt. Die Einsicht, dass der Staat nicht neutral über den Klassen steht, sondern deren Gegensätze organisiert und verschleiert, bleibt unberücksichtigt.
Materialistische Perspektiven auf den Staat
Materialistische Staatstheorien setzen genau an diesem Punkt an: Sie begreifen den Staat nicht als neutralen Schiedsrichter über gesellschaftliche Interessen, sondern als Ausdruck und Organisation bestehender Machtverhältnisse.3Vgl. Wolfgang Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Alfred Hermann (Hrsg.), Aus Geschichte und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ludwig Bergsträsser, 1954, S. 279, 289. Auch Karl Marx sieht im Staat kein moralisches Fortschrittsinstrument, sondern ein Mittel zur Stabilisierung kapitalistischer Produktionsverhältnisse – eine Institution, die die politischen Bedingungen zur Sicherung der ökonomischen Ausbeutung schafft.4MEW 3, S. 62. Der bürgerliche Staat ist für ihn kein überparteilicher Akteur, sondern ein Apparat zur Wahrung der Eigentumsverhältnisse – unabhängig davon, ob er sich monarchisch oder republikanisch organisiert. Die Auflösung ständischer Ordnungen, die Mobilisierung der Arbeitskraft, die Durchsetzung wirtschaftsliberaler Prinzipien: All das lässt sich als Ausdruck eines Staates lesen, der weniger ein ideelles Gesamtinteresse verkörpert als vielmehr die politischen Rahmenbedingungen einer kapitalistischen Ordnung mitträgt und stabilisiert.
Diese Perspektive blendet Zorn aus, wenn er linke Staatskritik als „seltsam anachronistisch“ bezeichnet und mithin suggeriert, dass jede kritische Haltung gegenüber dem liberal-demokratischen Staat notwendigerweise rückwärtsgewandt oder verschwörungsideologisch sei. Doch Zorn verfehlt hier den Kern materialistischer Kritik – und begeht, im philosophischen Sinne, einen Kategorienfehler5Der Begriff des Kategorienfehlers geht zurück auf Gilbert Ryle und bezeichnet den fehlerhaften Versuch, Begriffe aus einem bestimmten Bedeutungszusammenhang auf ein völlig anders gelagertes Phänomen anzuwenden – etwa, wenn man von der äußeren Form demokratischer Verfahren auf ihre emanzipatorische Funktion schließt, ohne die gesellschaftliche Struktur zu berücksichtigen, in der sie operieren.: Er antwortet auf eine Analyse gesellschaftlicher Funktionszusammenhänge mit einer Beschreibung institutioneller Form. Dabei verwechselt er die normative Verfasstheit demokratischer Verfahren mit der strukturellen Rolle des Staates in der Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Der Begriff der liberalen Demokratie wird so als Legitimitätsform absolut gesetzt, während deren materielle Voraussetzungen ausgeblendet bleiben. Doch strukturelle Herrschaft lässt sich nicht durch formale Gleichheit auflösen – sie reproduziert sich in anderer Form: nicht mehr primär durch Repression, sondern durch Konsens, Partizipation und jene ideologische Gleichsetzung von Recht und Gerechtigkeit, die gesellschaftliche Machtverhältnisse verschleiert. Materialistische Kritik richtet sich daher nicht gegen das Prinzip der Demokratie, sondern gegen deren Einbettung in ein kapitalistisch organisiertes Gesellschaftssystem. Sie fragt nicht, ob der Staat formal legitimiert ist, sondern wem seine Funktionsweise dient – und auf wessen Kosten.
Nicos Poulantzas entwickelt diese Einsicht weiter, indem er den Staat nicht als bloßes Instrument der herrschenden Klasse, sondern als materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse versteht. Er kritisiert sowohl die idealistische Vorstellung eines neutralen Staates als auch den vulgärmarxistischen Reduktionismus, der ihn als einheitliches Werkzeug der Bourgeoisie fasst. Für Poulantzas ist der Staat ein strategisches Feld: umkämpft, widersprüchlich, durchzogen von Auseinandersetzungen zwischen Klassen und Klassenfraktionen – und damit gerade kein monolithischer Block, sondern ein Ort strukturell organisierter Konflikte.6Nicos Poulantzas, Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus, 2002, S. 158, 170. Er ist nicht bloß Bühne, sondern ein champ stratégique, auf dem gesellschaftliche Kräfte real organisiert, materialisiert und durchgesetzt werden. Seine demokratische Verfasstheit verdeckt die sozialen Widersprüche nicht – sie ist vielmehr deren institutionalisierter Ausdruck: Politische Gleichheit vor dem Gesetz koexistiert mit struktureller sozialer Ungleichheit – und dient häufig zu deren Legitimation.
Demokratische Form und kapitalistische Realität
Demokratische Institutionen erscheinen als allgemeinverbindlich, während sie faktisch jene Interessen stabilisieren, die über ökonomische Ressourcen und strukturellen Einfluss verfügen – auch wenn dieser Prozess keineswegs einheitlich oder widerspruchsfrei verläuft.7Vgl. Joseph Vogl, Der Souveränitätseffekt, 2015, S. 20 ff. Der Staat schützt Grundrechte – und doch akzeptiert er im Namen des neoliberalen Status quo sozialen Schaden: durch Agenda-Politik, verfehlte Wohnraumpolitik, unzureichende Klimamaßnahmen oder die wachsende soziale Ungleichheit. In diesem Lichte ist es kaum verwunderlich, dass das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz8Vgl. Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG vergleichsweise schwach ausgeprägt ist – als bloße Staatszielbestimmung, nicht als subjektives Recht.
Exemplarisch für die Entkopplung staatlicher Entscheidungsmacht von demokratischer Rückbindung zeigt sich – trotz interner Widersprüche und politischer Gegenkräfte – die Einrichtung eines „Sondervermögens“ zur Aufrüstung der Bundeswehr.9Vgl. Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG. Selbst als sich bereits eine gesellschaftliche Mehrheit skeptisch zeigte, wurde diese Maßnahme durch ein formal legitimes, demokratietheoretisch jedoch fragwürdiges Verfahren beschlossen – von einem Bundestag, dessen rechtliche Handlungsfähigkeit zwar fortbestand, dessen politische Legitimation durch die bereits erfolgte Abwahl jedoch erheblich geschwächt war. Die Zusammensetzung des neuen Bundestags – mit veränderten Mehrheiten – stand bereits fest, was eine solche Entscheidung erheblich erschwert hätte. Eine weitreichende Richtungsentscheidung wurde somit gegen den erkennbaren politischen Stimmungsumschwung getroffen – in Spannung zu demokratischen Prinzipien von Responsivität und Legitimation.
Demokratische Verfahren (Input) erscheinen intakt, doch der Staat versagt zunehmend im Hinblick auf seine Problemlösungskapazität (Output). In der Demokratietheorie ist diese Diskrepanz als Differenz zwischen Input- und Output-Legitimität bekannt.10Fritz W. Scharpf, Governing in Europe. Effective and Democratic?, 1999, S. 6 ff. Das Verfahren mag demokratisch sein – seine Ergebnisse verlieren jedoch an Akzeptanz, wenn strukturelle Probleme ungelöst bleiben. In ähnlicher Weise beschreibt Colin Crouch die gegenwärtige Entwicklung westlicher Demokratien mit dem Begriff der Postdemokratie: Zwar seien die Institutionen formal weiterhin funktionsfähig, doch werde der politische Entscheidungsprozess zunehmend von wirtschaftlichen Eliten und Lobbygruppen dominiert, während die öffentliche Debatte zu einem professionell inszenierten Spektakel verkomme.11Colin Crouch, Postdemokratie, 2008, S. 10 ff. Diese Entwicklung verschärft die Diskrepanz zwischen prozeduraler Legitimität und sozialer Effektivität – ein Spannungsverhältnis, das in Zorns Text weitgehend unberücksichtigt bleibt. Zwar betont er die normative Bedeutung demokratischer Verfahren, deren materielle Voraussetzungen bleiben gleichwohl im Dunkeln. Eine Verteidigung des demokratischen Staates, die seine strukturellen Schwächen systematisch ausklammert, läuft indes Gefahr, zur Leerformel zu werden.12Vgl. dazu Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, 1966, S. 279 f.
Pazifismus unter Verdacht
Noch problematischer wird es, wenn diese Verteidigung sich gegen jene richtet, die den Staat – oder einzelne staatliche Entscheidungen – aus emanzipatorischer Perspektive kritisieren. Genau das zeigt sich in Zorns polemischer Auseinandersetzung mit Ole Nymoen – nicht in der Kolumne selbst, sondern in einem begleitenden Thread auf X. Dort unterstellt er Nymoen, der sich öffentlich zur Kriegsdienstverweigerung bekannte,13Ole Nymoen, Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde. Gegen die Kriegstüchtigkeit, 2025. moralischen Egoismus, eine ideologische Instrumentalisierung des Themas und sogar eine Nähe zu rechtspopulistischen Kommunikationsstrategien. Diese Entgrenzung des Verdachts – gegen einen erklärten Linken – verwischt politische Differenzen und befördert ein Demokratieverständnis, in dem abweichende Positionen als illegitim erscheinen. Wer nicht bereit ist, den Staat notfalls mit der Waffe zu verteidigen – einen Staat, der in zentralen Bereichen versagt –, wird so unter den Generalverdacht der Demokratieskepsis gestellt.
Dabei offenbart sich ein tiefgreifender Widerspruch liberaler Staatlichkeit: Ein System, das sich der Unantastbarkeit individueller Rechte verschreibt, erhebt im Ernstfall den Anspruch, genau dieses Individuum zur Verteidigung mit der Waffe zu verpflichten – notfalls unter Zwang. Freiwilligkeit mag diesem Akt Würde verleihen; der Zwang jedoch entblößt das paradoxe Verhältnis von Rechtschutz und Selbstaufgabe. Es ist, als verlange die liberale Demokratie die Aufopferung des Individuums, um den Individualismus zu bewahren. Wer dies ablehnt – wie Nymoen –, stellt nicht zwangsläufig die Demokratie infrage, sondern rückt vielmehr deren blinden Fleck ins Zentrum. Zugleich nähert sich Zorns Argumentation der Logik der Extremismustheorie – jener Perspektive, die linke und rechte Systemkritik als gleichermaßen bedrohlich für die politische Ordnung begreift. Übersehen wird dabei, dass linke Kritik häufig aus einem demokratisch-egalitären Impuls hervorgeht: dem Wunsch nach sozialer Gleichheit, Teilhabe und Gerechtigkeit. Wer diesen Impuls delegitimiert, verwechselt Gesellschaftskritik mit Verfassungsfeindlichkeit. Doch was bedeutet Verteidigung überhaupt, wenn die Kluft zwischen staatlichem Anspruch und gesellschaftlicher Realität immer größer wird? Gerade diese Frage müsste ins Zentrum des demokratischen Selbstverständnisses rücken.
Freiheit, die sie meinen
Natürlich lässt sich materialistische Kritik generell als „Vulgärmarxismus“ diskreditieren – ein in akademischen Debatten oft reflexhaft eingesetzter Abwehrbegriff. Doch diese Abwehr verdeckt den entscheidenden Punkt: Die Kluft zwischen demokratischen Institutionen und den Lebensrealitäten breiter Bevölkerungsschichten lässt sich nicht ideengeschichtlich erklären. Sie verlangt die Auseinandersetzung mit konkreten sozialen Fragen – von Löhnen über Mieten bis zur Arbeitszeit. Nicht die Kritik ist verkürzt, sondern ihre vorschnelle Zurückweisung. Der neoliberale Staat hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend als Instrument zur Stabilisierung ökonomischer Machtverhältnisse etabliert. Wendy Brown hat in diesem Zusammenhang gezeigt, dass der neoliberale Staat nicht nur wirtschaftspolitisch agiert, sondern das demokratische Denken selbst marktkonform umformt.14Wendy Brown, Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, 2015, S. 32 Seine Funktion reicht über Rechtswahrung hinaus: Er wird durch Kapitalinteressen geformt und verliert angesichts globaler Märkte zugleich an steuernder Wirksamkeit. Was bleibt vom Rousseau’schen Gesellschaftsvertrag, wenn die materiellen Grundlagen demokratischer Selbstbestimmung erodieren?
Die Rede von Freiheit bleibt unkonkret, solange nicht klar ist, unter welchen sozialen Bedingungen sie tatsächlich eingelöst werden kann. Eine Verteidigung demokratischer Institutionen, die sich allein auf normative Verfahren stützt, ignoriert diese Bedingungen – und verkennt damit den Zusammenhang von politischer Teilhabe und ökonomischer Struktur. Freiheit, so scheint es, meint in vielen Verteidigungen der liberalen Ordnung nicht die Freiheit zur Veränderung, sondern die Freiheit, sich nicht verändern zu müssen – es ist jene Freiheit, die sie wohl meinen.15Der Liedermacher Franz Josef Degenhardt hat diese Spannung in seinem Lied „Der anachronistische Zug oder: Freiheit, die sie meinen“ (1977) literarisch zugespitzt – in bewusster Anlehnung an Bertolt Brechts Gedicht „Der anachronistische Zug oder: Freiheit und Democracy“ (1947). Vielleicht bedarf es heute einer Neubewertung des Staates als Instrument sozialen Wandels – über seine liberale Schutzfunktion hinaus. Eine solche Perspektive müsste den Staat nicht nur als ordnende Macht, sondern als aktiven Akteur gesellschaftlicher Entwicklung denken: durch gerechte Steuerpolitik, öffentliche Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Klima, ergänzt durch eine progressive Vermögensbesteuerung. In einer globalisierten Welt stellt sich zudem die Frage, wie demokratische Souveränität gegenüber ökonomischer Fremdbestimmung wiedergewonnen werden kann.
Zorns Verteidigung des Staates als Garant von Freiheit ist in diesem Sinn nicht falsch – aber sie greift zu kurz. Aus demokratisch-sozialistischer Perspektive ist der Staat nicht neutral, sondern tief in die bestehende Ordnung eingebunden. Wer Demokratie erneuern will, darf sich nicht mit ihrer Form zufriedengeben, sondern muss ihre materiellen Voraussetzungen in den Blick nehmen. Und wer verstehen will, was Staatlichkeit im 21. Jahrhundert bedeutet, muss nicht nur Platon, Kant und Hegel lesen, sondern auch Marx, Poulantzas, Brown – und vor allem: die Nachrichten. Denn Staatlichkeit ist kein philosophisches Rätsel – sondern ein gesellschaftliches Problem mit historischen Ursachen und materiellen Folgen.
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