Hat die Europäische Union ein Legitimitätsdefizit?

Für viele Beobachter ist der Ausgang der diesjährigen Wahlen zum Europäischen Parlament nicht überraschend. In vielen Mitgliedsstaaten verzeichneten europakritische und rechtspopulistische Parteien enorme Stimmenzuwächse: In Großbritannien gingen die EU-skeptische UKIP und in Frankreich der rechtsextreme Front National sogar als große Gewinner aus dem Urnengang hervor.

Die Bandbreite der europakritischen Parteien umfasst allerdings das gesamte politische Spektrum und reicht von der sozialistischen Syriza in Griechenland bis zur offen nationalistisch und antisemitisch eingestellten Jobbik in Ungarn. Auch in dem vormals durchweg proeuropäischen Deutschland hat sich mit der AfD eine eurokritische Bewegung formiert. Folglich ist festzuhalten, dass in einigen Teilen der europäischen Bevölkerung ein tiefgehendes Misstrauen gegenüber den Institutionen in Brüssel und Strasbourg vorhanden ist. So sehen viele Kritiker in den mangelnden Kompetenzen des Europäischen Parlaments einen wesentlichen Grund für das Demokratiedefizit der Europäischen Union und sprechen vom „sanften Monster Brüssel“ oder weitaus polemischer gar von der „EUdSSR“. Zudem fühlen sich diese Kritiker in ihrer Meinung bestätigt, als die konservativen Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat zögerten, den Christsozialen Jean-Claude Juncker als Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu nominieren.

In der Tat ist fraglich, ob und inwieweit die europäischen Institutionen aus demokratietheoretischer Sicht legitimiert sind. Um darauf eine Antwort zu finden, gilt es zunächst, einen Überblick über die Herausforderungen zu finden, mit denen der Nationalstaat alter westfälischer Prägung im sog. postnationalen Zeitalter konfrontiert ist. Anschließend wird anhand zweier demokratietheoretischer Konzepte gezeigt, wie legitimes Regieren jenseits des Nationalstaats funktionieren kann. Die Quintessenz dieses Essays wird sein, dass das gängige Konzept von Fritz Scharpf um eine dritte Dimension der Legitimation erweitert werden muss.

Vom Territorialstaat zum „Regieren jenseits des Nationalstaats“

Nach Jürgen Habermas haben moderne Staaten in ihrer heutigen Ausprägung vier Evolutionsschritte durchlaufen.1HABERMAS, Jürgen, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation. Politische Essays, S. 97 ff. Zunächst waren sie (1.) über viele Jahrhunderte hinweg schlichte Verwaltungs- und Steuereinheiten. Deren Grenzen wurden erst gefestigt, als sie sich (2.) zu souveränen Territorialstaaten entwickelten. Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte sich im Zuge der Französischen und Amerikanischen Revolutionen insbesondere in vielen europäischen Staaten eine nationale Identität, die für einen verstärkten Zusammenhalt und erhöhte Solidarität zwischen der (nunmehr) nationalen Bevölkerung sorgte: der klassische Nationalstaat ward geboren (3.). Die vormals anonyme Staatsbevölkerung wandelte sich schließlich in einem letzten Schritt im Rahmen des demokratischen Rechts- und Sozialstaats (4.) zu einem Staatsbürger mit individuellen Rechten und Pflichten.

Diese vier Evolutionsstufen bilden noch heute das historische Fundament jedes modernen Staates. Seit geraumer Zeit jedoch befindet der sich so beschriebene Nationalstaat in einer Krise. Verstärkt durch die Entwicklung neuartiger Kommunikationskanäle wie dem Internet, der Erschließung günstiger Transportwege und effektiver Produktionsfaktoren steht der einzelne Nationalstaat mehr denn je unter Druck. Hinzu kommen komplexe Probleme wie die globalen Finanz- und Wirtschaftskrisen der letzten Jahre oder der Klimawandel, mit deren Bewältigung der einzelne Nationalstaat zunehmend überfordert ist. Er besitzt in seinen ureigenen Grenzen schlicht nicht mehr die Fähigkeit, in angemessener und effektiver Weise auf die sog. gesellschaftliche Denationalisierung reagieren zu können. In einigen Bereichen bilden sich deshalb Strukturen der internationale Zusammenarbeit heraus, in deren institutionellem Rahmen versucht wird, politische Lösungen auf die zuvor genannten Probleme zu finden (sog. Global Governance2ZÜRN, Michael, Regieren jenseits des Nationalstaats. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, 1998.).

Vor dem hier skizzierten Hintergrund lässt sich auch die Europäische Union als Teil eines Problemlösungsansatzes in einer globalisierten Welt begreifen, in der die einzelnen Mitgliedsstaaten für sich genommen nur eine begrenzte Einflusssphäre besitzen. Während sich einige Gesellschaftsteile wie die Medien oder auch Zivilgesellschaft hervorragend an die neue, grenzenlose Welt anpassen, scheint das politische System mit dieser Entwicklung nicht angemessen Schritt halten zu können. So stellt sich die Frage, durch wen die Europäische Kommission eigentlich legitimiert ist, etwa wenn sie milliardenschwere Konjunkturprogramme zur Rettung der Eurozone auflegt?

Legitimität in der Europäischen Union

Normativ beschreibt der Begriff Legitimität die faktische Rechtmäßigkeit und Billigung staatlicher und nichtstaatlicher Herrschaft seitens der Beherrschten. Für Fritz Scharpf lässt sich dieser Legitimitätsbegriff weiter in drei voneinander abzugrenzende Dimensionen unterteilen.3SCHARPF, Fritz W., Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats, 2004.

Der sogenannten Output-Legitimität liegt das empirisch-funktionale Prinzip der Nützlichkeit zu Grunde. Politische Entscheidungen sind demnach dann legitim, wenn sie pareto-effizient sind, ergo Vorteile bringen ohne auch nur einem Individuum zum Nachteil zu werden. Zugegeben, diese Überlegungen erscheinen zunächst äußerst theoretisch. Aus einer praktischen Perspektive befasst sich die Output-Legitimität mit der Qualität, welche einzelne Governance-Entscheidungen aufweisen. Deren Reichweite wird jeweils durch eine bestimmte Kategorie von Problemen definiert. Kurz gesagt, bei der Output-Legitimation wird angenommen, dass sich die Entscheidungen in der Europäischen Union durch einen positiven Effekt auf die gesamteuropäische Bevölkerung legitimieren. Beispielsweise bringt der durch die Europäische Union etablierte Binnenmarkt wesentliche Vorteile für die Wirtschaftskraft der einzelnen Staaten und in weitere Konsequenz als trickle-down-effect auch für deren Bürger. Folglich ist der gemeinsame EU-Wirtschaftsraum durch die Bereitstellung des öffentliches Gutes „Binnenraum“ legitimiert – aus der Output-Perspektive wohlgemerkt.4SCHARPF, Fritz W., Legitimacy in the Multilevel European Polity, 2009, S. 9.

Offensichtlich birgt die Output-Legitimation jedoch einige Probleme. Was geschieht mit der Legitimität, wenn eines der Mitglieder sich dazu entschließt, nicht mehr an die Funktionalität der Institution „EU-Binnenmarkt“ zu glauben (sog. Modus-Vivendi-Problem)? Wer besitzt überhaupt die Kompetenz zu definieren, dass der EU-Binnenmarkt eines jener öffentlichen Güter ist, die von der EU geregelt werden sollen (sog. Güterdefinitionsproblem)? Für diese Fragen liefert die Input-Perspektive eine passende Lösung.

Die Input-Legitimität ist der Gradmesser für die Partizipation des Staatsbürgers respektive des Staatsvolkes (demos5LEPSIUS, Rainer M., „Ethnos“ und „Demos“. Zur Anwendung zweier Kategorien von Emerich Francis auf das nationale Selbstverständnis der Bundesrepublik und auf die Europäische Einigung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 38/4, 1986, S. 751 ff.) am Entscheidungsprozess. Normativ wird im Rahmen der Input-Legitimation die Frage gestellt, wie einzelne Bürger am politischen Prozess teilhaben können. Die Input-Legitimation kommt in der Europäischen Union in zwei Dimensionen zum Tragen: Erstens wählt das gesamteuropäische demos die Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden alle fünf Jahre in allgemeinen, geheimen, freien und unmittelbaren Wahlen. Viel wichtiger vor dem Hintergrund der begrenzten Kompetenzen des Parlaments ist allerdings der Einfluss, den nationalen Staats- und Regierungschefs auf den Entscheidungsprozess im Europäischen Rat und dem Rat der Europäischen Union („EU-Ministerrat“) ausüben.

Neben der Output- und Input-Legitimität existiert nach Scharpf noch eine weitere Dimension politischer Legitimität, die sog. Throughput-Legitimität. Sie beschreibt die unabänderlichen Merkmale eines jeden demokratischen Prozesses. Sind die Kriterien der Entscheidungsfindung fair und gerecht? Welche Rolle spielt die Majoritätsregel bei Abstimmungen? Existieren effektive Sanktionsmechanismen zur Regeldurchsetzung (compliance)?

Unter Umständen kann es jedoch zu Konstellationen kommen, die von keinem der drei genannten legitimitätstheoretischen Konzepte erfasst wird. So sagt beispielsweise die Input-Legitimität aus, dass der demos an einer legitimen Entscheidung beteiligt werden muss. Fraglich bleibt dabei aber immer noch, welcher Personenverbund dieses demos ex ante konstituiert. Diese Schwierigkeiten bilden gewissermaßen die Frage nach einer pouvoir constitutant im Prozess der Europäischen Integration ab. Hier empfielt sich daher die Erweiterung des Scharpf’schen Legitimitätskonzepts um eine weitere grundlegende Dimension – die der sog. horizontalen Legitimität.

Legitimität nach Kalevi Holsti

Legitimität leitet sich grundsätzlich vom öffentlichen Charakter der bereitgestellten Güter ab: Politische Entscheidungen entfalten eine kollektiv bindende Wirkung und müssen aus diesem Grund gegenüber allen Mitgliedern des demos legitimiert werden können. Daher stellt sich bei dieser Betrachtung gleich zu Anfang die Frage, wie der demos in das politische System integiert wird. Kurz: Durch welche Merkmale definiert sich eine politische Gemeinschaft?

Kalevi Holsti unterscheidet zwischen zwei unterschiedlichen Dimensionen von Legitimation: der horizontalen und der vertikalen Legitimität.6HOLSTI, Kalevi, The State, War, and the State of War, 1996, S. 102 ff. Im Rahmen der horizontalen Legitimität existieren zwei von einander unterscheidbare Formen sozialer Integration: eine systemisch-funktionale Gemeinschaft und eine sozio-normative Gemeinschaft. Systemisch-funktionale Gemeinschaften zeichnen sich durch eine eindeutige Kosten-Nutzen-Abwägung ihrer Akteure aus. Daher sind die einzelnen Akteure auch nicht etwa durch gemeinsame Wertevorstellungen verbunden, sondern sie stimmen lediglich darin überein, dass begrenzte Kooperation aufgrund der äußeren Umstände für sie selbst vorteilhaft und somit rational ist. Jeder individuelle Akteur profitiert dabei von der Kooperation. In der sozio-normativen Gemeinschaft hingegen erkennen sich die einzelnen Akteure gegenseitig jeweils als Mitglieder eines gemeinsamen demos an. Dies geschieht häufig durch gemeinsame Normen wie etwa sprachliche, kulturelle, religiöse oder historische Wurzeln.

Diese Überlegungen gehen aus Gründen der Logik jedweder Legitimationsbetrachtung voraus. Mithin wissen wir jetzt schon, durch welche Merkmale sich eine politische Gemeinschaft definiert. Daran anschließend beschreibt die vertikale Legitimität das Verhältnis zwischen demos und Entscheidern. Hier bezieht sich Holsti auf Max Webers Konzept der legitimen Ordnung7WEBER, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Erster Teil: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, 1922, § 5. an, also dem Verhältnis des Herrschaftsanspruchs der Regierenden zum Herrschaftsglauben der Regierten. Laut Holsti geht in dieser vertikalen Dimension die Input-, Throughput und Output-Dimension auf.

Für eine institutionelle Reform der Europäischen Union

Die Legitimität der EU lässt sich am besten mit einem drei-dimensionalen Analyseraster beurteilen. Am eindeutigsten lässt sich dabei die horizontale Legitimität der EU bewerten. Der demos der Europäischen Union konstruiert sich folglich als sozio-normative Gemeinschaft, basierend auf gemeinsamen kulturellen, historischen und größtenteils auch sprachlichen Wurzeln.

Problematisch ist jedoch weiterhin die horizontale Legitimität der Europäischen Union, also das Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten. Zwar ließe sich leicht argumentieren, dass beispielsweise der europäische Binnenraum eine effektive Steuerung durch die Europäische Union benötigt. Allein damit wäre eine inhaltliche Rechtfertigung im Sinne der Output-Legitimität vorhanden.

Allerdings bereitet bei dieser Betrachtung die Input-Legitimation einige Probleme. Zwar nimmt der europäische demos entscheidenden Einfluss etwa auf die Zusammensetzung des europäischen Parlaments. Diese besitzt jedoch letztlich nicht die nötigen Kompetenzen, um neben der Öffentlichkeitsfunktion die weiteren grundlegenden Funktionen eines Parlaments – Gesetzgebungs-, Wahl-, Kontrollfunktion – zu übernehmen. Korrekterweise ist daher das Europäische Parlament kein Parlament im engeren Sinne, sondern lediglich eine Volksvertretung.

Das politische System der Europäischen Union | © Ziko van Dijk, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Vielmehr liegt ein größere Teil der Kompetenzen bei dem Europäischen Rat, in dem die nationalen Staats- und Regierungschefs vertreten sind, beim EU-Ministerrat sowie bei der EU-Kommission, deren Zusammensetzung wiederum von den nationalen Regierungen bestimmt wird. Diese sind zwar mittelbar über die nationalen Wahlen legitimiert. Allerdings geht diese Legitimation erstens nicht vom gesamteuropäischen demos aus, sondern nur von der jeweiligen einzelstaatlichen Bevölkerung. Das deutsche Volk bestimmt eben nicht den italienischen Präsidenten, sondern legitimiert nur die deutsche Bundeskanzlerin. Zweitens werden die nationalen Staats- und Regierungschefs lediglich dazu gewählt, nationale Interessen zu vertreten und sind nicht dazu legitimiert, Sachfragen aus einer gesamteuropäischen Perspektive zu bearbeiten. Die dazu benötigte Legitimationskette ist aus demokratietheoretischer Sicht nicht ausreichend.8vgl. POLLAK, Johannes, Repräsentation ohne Demokratie, 2007, S. 22.

Demnach erscheint die Kritik am institutionellen Demokratiedefizit der EU aus legitimatorischer Sicht begründet. Fraglich ist jedoch, ob die einfachen Lösungen vieler rechtspopulistischer Parteien der richtige Weg sind, denn vielfach heisst dort die Losung schlicht „Zurück zum Nationalstaat“. Das dies der falsche Weg ist, beweisen die komplexen Probleme der letzten Zeit. Um diesen Bewegungen dennoch nachhaltig den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist hingegen eine Reform des politischen Systems der Europäischen Union zielführend, insbesondere im Bereich der Input-Legitimation. So könnten etwa in einer Aufwertung des Europäischen Parlaments von einer schlichten Volksvertretung zu einem wahrhaftigen europäischen Parlament und in der Einführung einer Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten das zuvor beschrieben Demokratiedefizit verringern.

Referenzen

Referenzen
1 HABERMAS, Jürgen, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation. Politische Essays, S. 97 ff.
2 ZÜRN, Michael, Regieren jenseits des Nationalstaats. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, 1998.
3 SCHARPF, Fritz W., Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats, 2004.
4 SCHARPF, Fritz W., Legitimacy in the Multilevel European Polity, 2009, S. 9.
5 LEPSIUS, Rainer M., „Ethnos“ und „Demos“. Zur Anwendung zweier Kategorien von Emerich Francis auf das nationale Selbstverständnis der Bundesrepublik und auf die Europäische Einigung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 38/4, 1986, S. 751 ff.
6 HOLSTI, Kalevi, The State, War, and the State of War, 1996, S. 102 ff.
7 WEBER, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Erster Teil: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, 1922, § 5.
8 vgl. POLLAK, Johannes, Repräsentation ohne Demokratie, 2007, S. 22.

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