Die Krise des Konservatismus oder: Gibt es einen linken Mainstream?

Im Internet ist der Vorwurf allgegenwärtig: Gesellschaft und Politik werden von einem linken Mainstream beherrscht. Dieser – der Begriff entstammt ursprünglich aus einem popkulturellen Kontext und beschreibt als solcher den Massengeschmack einer Mehrheit im Gegensatz zum ästhetischen Underground – beruhe auf einem heuchlerischen Moralismus, dem „geistige Erbe von 150 Jahren Kommunismus mit all seinen sozialistischen Kaderschmieden“. So zumindest die gängige Interpretation. Aus dieser rechtspopulistischen Perspektive scheinen plötzlich auch die konservativen Unionsparteien einen linken Mainstream abzubilden. Vielmehr seien relevante Entscheider in Politik und Medien links-grün versifft – das Wort Siff steht übrigens etymologisch in einem engen Zusammenhang mit der Krankheit Syphilis – also durchtränkt mit der politischen Ideologie von Linken und Grünen, deren Vorstellungen die deutsche Mehrheitsgesellschaft unbemerkt unterwandert hätten. Doch ist die deutsche Politik wirklich so links wie behauptet?

Rechts und Links

Allgemein bekannt ist, dass die Begriffe Rechts und Links erstmals im Zuge der Französischen Revolution (1789) politisch aufgeladen wurden und sich dann während der sog. Julimonarchie in Frankreich und der Julirevolution von 1830 als Beschreibung der parlamentarischen Sitzordnung etablierten. Während auf der linken Seite tendenziell republikanische, demokratische, liberale und frühsozialistische Abgeordnete Platz fanden, sammelten sich auf der rechten Seite hauptsächlich diejenigen, welche für den Erhalt der absolutistischen Monarchie und die Stärkung der Aristokratie eintraten.1Vgl. SOLTY, Ingmar, links/rechts, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hamburg 2015, Band 8/II, Spalte 1153-1168.

Somit werden als politisch links auch heute noch jene ideologischen Ansätze bezeichnet, die zum Ziel haben, die Ungleichheit aufzuheben sowie die als Unterdrückung begriffenen Sozialstrukturen zugunsten der wirtschaftlich oder gesellschaftlich Benachteiligten zu überwinden.2LUKES, Steven, Epilogue: The Grand Dichotomy of the Twentieth Century, in BALL, Terence, BELLAMY, Richard (Hrsg.), The Cambidge History of Twentieth-Century Political Thought, 2003. Grundlegend für das linke Politikverständnis ist ein egalitäres Menschenbild, also die Gleichberechtigung aller Menschen, unabhängig von nationalen, ethnischen, geschlechtlichen, sozialen oder anderen Gruppenzugehörigkeiten.3BOBBIO, Norberto, CAMERON, Allan, Left and Right: The Significance of a Political Distinction, 1997, S. 37.

Demgegenüber geht das rechte Politikverständnis grundsätzlich von der Verschiedenheit der Menschen aus und befürwortet eine gesellschaftliche Hierarchie.4GOLDTHORPE, John Ernest, An Introduction to Sociology. Cambridge 1968, S. 156. Folglich wird Ungleichheit als unausweichlich, natürlich, normal und wünschenswert angesehen. Hier kann zwischen klassisch-konservativen Rechten unterschieden werden, die die Ungleichheit etwa durch Erbfolge, Familientradition oder Staatsangehörigkeit gerechtfertigt sehen, und liberalen Rechten, die Ungleichheit lediglich als Folge eines fairen Wettbewerbs akzeptieren.

Obwohl vielfach als stark vereinfachend kritisiert5Eine ungleich differenziertere Betrachtung stellt der sog. politische Kompass dar, der neben der Achse Links – Rechts auch eine Achse Autoritär – Libertär besitzt. Auch die Erforschung politischer Milieus liefert eine aussagekräftige Einteilung gesellschaftlicher Gruppen, rekurriert dabei allerdings verstärkt auf soziologische Faktoren wie Werteorientierungen, Alltagseinstellungen und sozialen Status., hält sich diese eindimensionale Klassifikation von politischen Einstellungen bis heute. Auch die Sitzordnung im deutschen Bundestag orientiert sich grob an dieser Einteilung: Demnach sind Die Linke, die SPD und Bündnis 90/Die Grünen der politischen Linken zurechenbar, während CDU/CSU, die FDP und die AfD die politische Rechte repräsentieren. Insbesondere der Union unter Angela Merkel wird vielfach jedoch vorgeworfen, originär rechte Positionen aufgegeben und sich damit der politischen Linken angenähert, sich „sozialdemokratisiert“ zu haben. Dies habe insofern enormen gesellschaftliche Aussagekraft, da die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU in dreizehn der letzten achtzehn Jahre die Bundeskanzlerin gestellt haben. Mithin stehe der Linkstrend der CDU stellvertretend für den linken Mainstream der Gesamtgesellschaft.

Sozialdemokratisierung der CDU?

Als Beleg für die Sozialdemokratisierung der Union werden insbesondere die Aussetzung der Wehrpflicht, die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare 2017, der Ausstieg aus der zivilen Kernenergienutzung 2011 sowie die angeblich liberale Flüchtlingspolitik der Jahre 2015 ff. angeführt. Die Aussetzung der Wehrpflicht und der Ausstieg aus der Kernenergienutzung sind m.E. Reaktionen der deutschen Politik auf externe Faktoren (Nuklearkatastrophe von Fukushima; asymmetrische Bedrohungslage in den Internationalen Beziehungen). In beiden Politikfeldern ist zudem äußerst fraglich, ob sie tatsächlich konstitutiv für ein klassisch konservatives Weltbild sind.

Demgegenüber ist die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare im Grunde ein emanzipatorisches Projekt, hebt es doch die rechtliche Ungleichheit zwischen hetero- und homosexuellen Paaren auf. Von den damaligen 309 Abgeordneten der Unions-Fraktion stimmten allerdings 225 Abgeordnete gegen die rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare, das entspricht mehr als drei Viertel der Abgeordneten. Selbst Angela Merkel, von der die Initiative zur Abstimmung im Bundestag faktisch ausging, stimmte dagegen. Dies entspricht damit auch keinem wirklichen Linkstrend.

CDU-Wahlplakat 1991 | © KAS

Die Asylpolitik von Angela Merkel steht wiederum im Spannungsfeld zwischen europäischer Integration und nationalen Interessen (Stichwort: Sicherheit & Ordnung) – beides tatsächlich Kernthemen eines konservativen Politikverständnisses. Seit 2015 möchten die Unionsparteien weitreichende Verschärfungen des Asylrechts durchsetzen (Familiennachzug, Einstufung von Marokko, Algerien und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten, etc.), die wiederum selbst in einer Reihe von Asylrechtseinschränkungen seit 1993 stehen. Dem damaligen Asylkompromiss zwischen CDU/CSU und SPD ging eine der schärfsten und folgenreichsten Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte voraus.6HERBERT, Ulrich, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, München 2001, S. 299. Von einer linken Flüchtlingspolitik kann folglich auch kaum ernsthaft die Rede sein.

Zusammengefasst: Ein Linkstrend der CDU lässt sich zumindest in den genannten Politikfeldern nur unter Schwierigkeiten feststellen. Diese Auffassung teilt auch Christian Martin vom Institut für Sozialwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Der Politikwissenschaftler hat dazu Daten aus dem Comparative Manifesto Project analysiert. Im Rahmen dieses Projekts werden Datenpunkte aus den unterschiedlichsten Parteiprogrammen abgeleitet und bilden so zusammengenommen einen jeweiligen Standort im Links-Rechts-Spektrum. Demnach hat sich die aus den zuvor genannten Politikfeldern aggregierte Position der CDU in den letzten Jahren praktisch kaum verändert: Laut den Zahlen für 2017 liegt sie in der Auswertung von Martin bei 45,35, wobei 0 für die äußerst linke Position, 100 für die äußerst rechte Position steht. Im Jahr 2013 waren es 44,68. Blickt man weiter zurück, wird immer noch keine ausgeprägte Linksverschiebung sichtbar: 2009 lag der Wert bei 42,05 und 2005 bei 43,17. Anders gesagt: Wenn sich die CDU überhaupt auf der Links-Rechts-Achse bewegt hat, dann leicht nach rechts.

Auch in der Analyse eines weiteren Datensatzes, des Chapel Hill Expert Survey, änderte die CDU ihre Position nur moderat von 6,0 im Jahr 2014 auf 5,8 im Jahr 2017 auf einer Skala von 0 bis 10, wobei 0 für die Position ganz links und 10 für die Position ganz rechts steht. Aber auch dies kann wohl nicht als ausgeprägter Linkskurs definiert werden.

Und die Sozialpolitik?

„Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut wie im Augenblick. Auch das muss einmal festgehalten werden.“ (Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 23. November 2016.)

Bei jeder Gelegenheit betont die Bundeskanzlerin, in welcher hervorragenden Lage sich Deutschland befindet. Die Realität sieht aber anders aus, wie ein Blick auf die Vermögensverteilung verrät. Das typische Maß hierfür ist der sog. Gini-Koeffizient. Je höher dieser ausfällt, desto größer ist die Ungleichheit. Das Maximum wäre ein Wert von 1,0 – das bedeutet, ein einziger Mensch besitzt alles. In Deutschland liegt der Gini-Koeffizient bei den Vermögen bei knapp 0,8. Dies ist auch im internationalen Vergleich ziemlich hoch: der Gini-Koeffizient liegt für Frankreich und Großbritannien bei etwa 0,7 und für Japan, Spanien, Italien bei gut 0,6. Dies ist offensichtlich nicht das Ergebnis einer linken Politik, denn deren Ziel müsste es sein, diese ungleiche Vermögensverteilung möglichst zu beseitigen.

Vermögensungleichheit im internationalen Vergleich | Datenbasis: Global Wealth Report 2017

Diese im Vergleich hohe Ungleichheit verwundert auf den zweiten Blick nicht. Nach der Klassifikation von Esping-Andersen7ESPING-ANDERSEN, Gøsta, The Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990. wird der deutsche Wohlfahrtsstaat tendenziell dem konservativen Wohlfahrtsstaatmodell zugerechnet. Die Kategorisierung orientiert sich dabei an der Logik des Verhältnisses zwischen Staat und Markt in der Bereitstellung sozialer Leistungen, an Modus und Qualität der Leistungen und an der Wirkung von Sozialpolitik auf soziale Schichtung und gesellschaftliche Machtverteilung. Versicherungsleistungen stehen im konservativen Modell im Vordergrund. Die umverteilende Wirkung der Sozialleistungen ist bei diesem Typ dagegen gering, so dass (im Gegensatz zum sozialdemokratischen Modell) keine Gleichheit auf hohem Niveau angestrebt wird.

Fazit: Kein linker Mainstream

Mithin ist Angela Merkel und der CDU vielleicht Beliebigkeit, Wankelmut und Zeitgeist-Politik vorzuwerfen, allerdings eben kein eindeutiger Linkskurs. Vielmehr ist sie wahrscheinlich von der Idee getrieben, die CDU als Volkspartei zu erhalten. Wie kommt es dann aber zu der hartnäckigen Behauptung, die CDU unter Angela Merkel wäre auf einem Linkskurs? 2013 verorteten Nicht-AfD-Wähler*innen die CDU auf einer Links-Rechts-Skala bei 6,79 und die AfD-Wähler bei 6,48, also an recht ähnlichen Positionen. 2017 änderte sich diese Wahrnehmung allerdings gravierend: AfD-Wähler*innen positionierten die CDU plötzlich bei 4,98 – sie sahen sie also als deutlich nach links verschoben an. Alle anderen Wählergruppen positionierten die CDU bei 6,1 – also weiter in etwa dem Bereich, in dem sie auch schon 2013 von ihnen verortet wurde. Kurzum: Die AfD-Wähler*innen überschätzen den angeblichen Linksruck der CDU massiv.

Die Gründe dafür sind eindeutig. Außerhalb des liberaldemokratischen Grundkonsens der Bundesrepublik wirkt sogar die Politik Angela Merkels und der CDU links. Die Argumentationsfigur des angeblich linken Mainstreams knüpft dabei an einen in rechtsextremen und geschichtsrevisionistischen Kreisen beliebten Topos an, dem zufolge die Deutschen in ihrer Geschichte immer wieder Opfer anderer Nationen, Minderheiten und eben ihrer eigenen selbstzerstörerischen linken Eliten geworden seien.8Vgl. dazu: SHOOMAN, Yasmin, „Deutschenfeindlichkeit“ – rechtsextremer Topos und Ausblendung von Machtverhältnissen, online am 07. August 2018. Aus Sicht der AfD-Sympathisanten liefert die These vom linken Mainstream, bzw. der Linkswende der CDU demnach auch die ultimative moralische Legitimation für den Aufstieg der AfD. Ganz nach dem Motto: Gäbe es den Linkstrend nicht, bräuchte es auch uns nicht, die AfD ist das natürliche gesellschaftliche Korrektiv. Tatsächlich befinden sich im Fahrwasser dieser These aber Rechtspopulisten und Rechtsextreme, die ad nauseam durch endlose Metadiskussionen über den angeblich linken Mainstream versuchen, die kulturelle Hegemonie9GRAMSCI, Antonio, Gefängnishefte 7, S. 1584., also die Deutungshoheit über den öffentlichen Diskurs, zu erlangen, um schließlich die Grenzen des gesellschaftlichen Grundkonsens nach rechts außen zu verschieben. Hinzu kommt, dass sich der politische Diskurs in den letzten Jahren inhaltlich entleert hat, nicht nur seitdem Donald Trump und Sebastian Kurz gezeigt haben, dass sich mit Populismus auch Wahlen gewinnen lassen. Das konservative Lager unter Angela Merkel ist dagegen – ähnlich wie die Sozialdemokratie – gefangen im Stillstand und unfähig, konstruktive Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage im Spannungsfeld von Globalisierung, Individualisierung und Digitalisierung zu formulieren.

Referenzen

Referenzen
1 Vgl. SOLTY, Ingmar, links/rechts, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hamburg 2015, Band 8/II, Spalte 1153-1168.
2 LUKES, Steven, Epilogue: The Grand Dichotomy of the Twentieth Century, in BALL, Terence, BELLAMY, Richard (Hrsg.), The Cambidge History of Twentieth-Century Political Thought, 2003.
3 BOBBIO, Norberto, CAMERON, Allan, Left and Right: The Significance of a Political Distinction, 1997, S. 37.
4 GOLDTHORPE, John Ernest, An Introduction to Sociology. Cambridge 1968, S. 156.
5 Eine ungleich differenziertere Betrachtung stellt der sog. politische Kompass dar, der neben der Achse Links – Rechts auch eine Achse Autoritär – Libertär besitzt. Auch die Erforschung politischer Milieus liefert eine aussagekräftige Einteilung gesellschaftlicher Gruppen, rekurriert dabei allerdings verstärkt auf soziologische Faktoren wie Werteorientierungen, Alltagseinstellungen und sozialen Status.
6 HERBERT, Ulrich, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, München 2001, S. 299.
7 ESPING-ANDERSEN, Gøsta, The Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990.
8 Vgl. dazu: SHOOMAN, Yasmin, „Deutschenfeindlichkeit“ – rechtsextremer Topos und Ausblendung von Machtverhältnissen, online am 07. August 2018.
9 GRAMSCI, Antonio, Gefängnishefte 7, S. 1584.

Du magst vielleicht auch

Kommentar verfassen