It’s still the Social Issues, Stupid – Über soziale Ungerechtigkeit in Deutschland

Nachdem sich die Aufregung um die US-Präsidentschaftswahl zumindest in Europa langsam legt – in den USA ist angesichts der jüngsten Entscheidungen Donald Trumps von einer sich vertiefenden Spaltung der Gesellschaft auszugehen – erwachen auch die ersten Kommentatoren aus der Schockstarre. Deren gängige Analyse besteht darin, dass insbesondere Liberale und Linke für den rasanten Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen verantwortlich sind, der mit der Inauguration des US-Präsidenten seinen wohl vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Die politische Elite habe sich einfach zu sehr von der Bevölkerung entfernt. Hans Monath schreibt etwa im tagesspiegel einmal mehr unter Bezug auf den rechtskonservativen Kampfbegriff der political correctness, dass Liberale der amerikanischen Gesellschaft mit der Wahl von Barack Obama zum ersten schwarzen US-Präsidenten zu viel zugemutet haben, denn diese habe nur die Ressentiments und die Wut der abgehängten weißen Unterschicht gestärkt.

Diesen katastrophalen Gedanken, man denke ihn bloß einmal zu Ende, verbindet Monath mit der Theorie des imperial overstretch, nach der mächtige Staaten mit großem geographischen Einfluss ihre materiellen und personellen Ressourcen an einer Vielzahl von Orten gleichzeitig einsetzen und somit ihre Kräfte überfordern.1MONATH, Hans (2016): Political Correctness: Der Hochmut der Vernünftigen. Der Tagesspiegel vom 11. Dezember 2016; online im Internet. Für Monath sitzen viele linke und liberale Politiker in einer Art selbstgerechtem Elfenbeinturm, haben die Sorgen und Nöte der kleinen Leute aus den Augen verloren und somit den gesellschaftlichen Zusammenhalt der USA schlichtweg überfordert. Warum aus meiner Sicht das Narrativ einer gescheiterten progressiven Politik nicht zutrifft, sondern der Rechtspopulismus in Wahrheit die Folge einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik ist, möchte ich im Folgenden anhand der Situation in der Bundesrepublik Deutschland beschreiben.

Die Schere zwischen Arm und Reich

Deutschland ging es nie besser. Diese positive Bilanz zieht Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung2MERKEL, Angela (2016): Regierungserklärung vom 23. November 2016; online im Internet. vom 23. November 2016:

„Wir sind in Deutschland im Augenblick in einer relativ guten Lage; das ist vielfach gesagt worden. Allein in den letzten fünf Jahren sind 2,7 Millionen Arbeitsplätze entstanden. (…) Der Bund nimmt seit 2014 keine neuen Schulden mehr auf, die Reallöhne und die Renten steigen. (…) Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut wie im Augenblick. Auch das muss einmal festgehalten werden.“

Deutschland geht es also gut. Warum sagen dann aber etwa 82 Prozent der Deutschen laut einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), dass sie die soziale Ungleichheit im Land zu hoch finden? Ist das die Neidgesellschaft, von der so oft die Rede ist und die angeblich so typisch für uns Deutsche ist? Warum teilen dann laut FES selbst ca. 76 Prozent der Gutverdiener mit einem Nettohaushaltseinkommen ab 4.000 Euro diese Einschätzung?

In zahlreichen Untersuchungen hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) festgestellt, dass die Schere zwischen Arm und Reich in der Bundesrepublik immer weiter auseinandergeht.3GOEBEL, Jan; GRABKA, Markus M.; SCHRÖDER, Carsten (2015): Income Inequality Remains High in Germany. Young Singles and Career Entrants increasingly at Risk of Poverty,  Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsförderung. Zu den Auslösern dieser Entwicklung zählt insbesondere die Erosion der Mittelschicht in Deutschland. Doch wer zählt überhaupt zu dieser ominösen Mittelschicht? Die Beantwortung dieser Frage ist zunächst gar nicht so einfach, denn in Deutschland existiert dafür keine einheitliche und exakte Begriffsdefinition. Vorbei die Zeiten, als sich noch relativ eindeutig zwischen Arbeitern und Angestellten – Blue and White Collar Jobs – unterscheiden ließ. Deshalb ziehen Wissenschaftler bei der Bestimmung der Mittelschicht hauptsächlich Faktoren wie Einkommen oder Bildungsstand heran. Insbesondere das monatliche Haushaltseinkommen fließt dabei als zentrales Statusmerkmal in die Begriffsbestimmung ein. Demnach gilt laut DIW etwa ein Einpersonenhaushalt mit einem Medianeinkommen zwischen 1.300 Euro und 2.460 Euro als klassische Mitte. Auch ein Paar ohne Kinder ab einem Nettoeinkommen ab 2.000 Euro und eine Familie mit zwei kleinen Kindern mit 2.750 Euro netto dürfen sich zur Mittelschicht zählen.

Der Anteil dieser sogenannten Einkommensmittelschicht an der Gesellschaft verringerte sich laut einer aktuellen Studie des DIW seit den Jahren 1996/1997 von etwa 65 Prozent auf aktuell 56 Prozent. Diese Erkenntnis deckt sich größtenteils mit Ergebnissen einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2012, wonach der Anteil der Mittelschicht an der Gesamtbevölkerung um 5,5 Millionen Menschen abgenommen hat.4BURKHARD, Christoph; GRABKA, Markus M.; GROH-SAMBERG, Oliver; LOTT, Yvonne; MAU, Steffen (2013): Mittelschicht unter Druck? Gütersloh: Bertelsmann Verlag.

Dieser Negativtrend gewinnt an Dramatik, wenn man weiß, dass die Mittelschicht in der Regel als die stabilisierende, ausgleichende und die Demokratie tragende gesellschaftliche Kraft angesehen wird: Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty untersuchte in seiner Veröffentlichung „Capital in the Twenty-First Century“ den Zusammenhang zwischen Einkommensverteilung und Ungleichheit auf internationaler Ebene.5PIKETTY, Thomas (2014): Capital in the Twenty-First Century, München: Beck. Dabei fand er heraus, dass die Mittelschicht in allen Krisen der letzten 300 Jahre verarmt und von sozialem Abstieg bedroht war, während die vermögende Oberschicht in jeder Krise immer reicher wurde. Auch auf die deutsche Gesellschaft ist seit dem Jahr 2000 der soziale Druck und die daraus folgende Erosion der Mittelschicht ungebrochen.

Sozial ungerecht: Die Vermögensverteilung

In Deutschland sind die Vermögen laut einer EZB-Studie so ungerecht verteilt wie in kaum einem anderen Land der Eurozone.6EUROPEAN CENTRAL BANK (2016): The Household Finance and Consumption Survey: Results from the Second Wave, No. 18. Zwar liegt das Einkommen des durchschnittlichen Deutschen deutlich über dem der anderen Europäer, sein Vermögen ist im Vergleich jedoch deutlich geringer. Ein durchschnittlicher Haushalt in Deutschland hat 60.000 Euro an Nettovermögen – dazu zählen Sparguthaben, Aktien, Immobilien, Lebensversicherungen aber auch Autos und Hausrat, abzüglich der Verbindlichkeiten – im Vergleich zu mehr als 100.000 Euro in anderen Ländern der Eurozone. Ein durchschnittlicher Haushalt in Spanien oder Italien hat sogar weit mehr als das Doppelte an Nettovermögen. Dies bedeutet nicht, dass es in Summe weniger privates Vermögen in Deutschland gäbe, sondern dass dieses private Vermögen hierzulande sehr viel ungleicher verteilt ist. Die oberen zehn Prozent haben 60 Prozent, die unteren 40 Prozent dagegen nicht mehr als ein Prozent des gesamten Privatvermögens. Die Vermögensungleichheit hat sich seit 2010, als die EZB diese Umfrage zum ersten Mal durchführte, sogar leicht erhöht. Die Vermögen der Ärmsten sind weiter geschrumpft.7FRATSCHER, Marcel (2017): Wer wenig verdient, kann wenig sparen, online in der Zeit vom 06. Januar 2017.

Nettovermögen in der Eurozone
© Eigene Darstellung in Anlehnung an Zeit.de auf Basis der Daten der EZB-Studie

Deutschland und Österreich etwa erheben im internationalen Vergleich sehr geringe vermögensbezogene Steuern.8BACH, Stefan: Vermögenbesteuerung in Deutschland: Eine Ausweitung trifft nicht nur Reiche, DIW Wochenbericht Nr. 30/2009 vom 22. Juli 2009. Die Einführung einer Substanzsteuer auf große Nettovermögen9Eine solche Vermögenssteuer wird in der Bundesrepublik seit dem Jahr 1997 nicht mehr erhoben. könnte laut DIW demnach etwa 15 Milliarden Euro an zusätzlichen Steuereinnahmen generieren. Auch eine Erbschaftssteuer wirkt in Richtung auf eine sozial gerechtere Vermögensverteilung.

Sozial ungerecht: Die Einkommensverteilung

Zwar ist das verfügbare Einkommen eines durchschnittlichen Haushalts in den Jahren 2000 bis 2012 um fünf Prozent gestiegen. Von dieser Entwicklung profitieren aber in erster Linie nur die oberen Einkommensgruppen: Während die Realeinkommen der obersten zehn Prozent um mehr als 15 Prozent stiegen, stagnieren sie in der mittleren Einkommensgruppe und sind in den unteren Einkommensgruppen sogar rückläufig. Im Ergebnis ist die Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland bis zum Jahr 2005 stark gestiegen und stagniert seitdem auf hohem Niveau. Parallel dazu hat das Armutsrisiko in Deutschland von 2000 bis 2009 signifikant zugenommen und liegt seither bei rund 14 Prozent. Vor allem für junge Alleinlebende (bis 35 Jahre) ist das Armutsrisiko deutlich gestiegen. Ihre Armutsrisikoquote hat sich seit 2000 um zwölf Prozentpunkte auf knapp 40 Prozent im Jahr 2012 erhöht. Auch Erwerbstätigkeit schützt nicht immer vor Armut: Vor allem Berufseinsteiger (25 bis 35 Jahre) sind zunehmend von Armut bedroht.10SEILS, Eric (2016): Jugend & befristete Beschäftigung. Eine Auswertung auf der Basis aktueller Daten des Mikrozensus, WSI der Hans-Böckler-Stiftung.

Entwicklung des Spitzensteuersatzes
© Eigene Darstellung auf Basis der offiziellen Daten des BMF

Insbesondere die Einkommenssteuer könnte sich auf eine gerechtere Verteilung der Einkommen auswirken, doch der Spitzensteuersatz wurde seit 1990 kontinuierlich abgesenkt. Die Einkommensungerechtigkeit gewinnt eine weitere Dimension, wenn man weiß, dass Vermögenswerte wie Kapitaleinkünfte mit 25 Prozent, Einkünfte aus klassischer Lohnarbeit aber mit einem Spitzensteuersatz von bis zu 42 Prozent (bzw. für höhere Einkommen bis zu 45 Prozent) versteuert werden. In fast keinem anderen Industrieland besteuert der Staat Vermögen so gering, Einkommen auf Arbeit dagegen so hoch wie in Deutschland.

Sozial ungerecht: Die atypischen Arbeitsverhältnisse

Weiterhin gibt es auch einen großen Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse. Mit diesem Begriff werden Arbeitsverhältnisse bezeichnet, die vom traditionellen Muster des sog. Normalarbeitsverhältnisses abweichen, also abhängig Beschäftigte in Teilzeit, Leiharbeit, sachgrundlose Befristungen und Minijobs. In Deutschland waren im Jahr 2015 etwa 40 Prozent aller abhängig Beschäftigten in atypischen Beschäftigungsverhältnissen tätig.11WSI-MITTEILUNGEN (2017): Vier von zehn arbeiten atypisch, Böckler Impuls 02/2017. Insbesondere die Teilzeit- und Leiharbeit hat zugenommen, die Zahl der Minijobber ist hingegen zurückgegangen. In der Bundesrepublik hat sich damit seit Beginn der 1990er-Jahre der Anteil der atypischen Beschäftigung an allen Jobs verdoppelt. Wer keinen unbefristeten Vertrag hat, kann seine Zukunft nicht sicher planen. Er muss häufig die Stelle wechseln, nicht selten in eine andere Stadt ziehen. Darunter leiden auch Partnerschaft und Familienplanung. Einige leugnen das Problem mit dem Verweis auf die starken Wirtschaftszahlen der Bundesrepublik Deutschland und der insbesondere im europäischen Vergleich niedrigen Arbeitslosenzahlen. Die Arbeitslosenquote sei von damals über 5 Millionen auf heute 2,7 Millionen halbiert worden. Doch mit der Agenda-Reform ging auch eine Neuausrichtung der Arbeitslosenstatistik einher. Die Linkspartei veröffentlicht jeden Monat die bereinigte Statistik auf Basis der offiziellen Daten der Bundesagentur für Arbeit.

Arbeitslosenzahlen Februar 2017

Arbeitslosenzahlen Februar 2017 2
© Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Mittlerweile geben einige Ökonomen die anhaltende Exportstärke als Ursache für die niedrigen Arbeitslosenzahlen in Deutschland an. Diese steht jedoch auf tönernen Füßen, womit ich mich schon an anderer Stelle beschäftigt habe. Denn die jahrelange, bis heute anhaltende Lohnzurückhaltung deutscher Arbeitnehmer verbilligt Exportgüter für das Ausland. Obwohl in den meisten EU-Ländern die Löhne stärker als die Preise gestiegen sind, sind die Zuwächse allerdings nicht der Lohn­entwicklung, sondern vor allem der extrem niedrigen Inflation zu verdanken. So hat der Reallohn 2015 im EU-Durchschnitt um 1,4 Prozent und 2016 um 1,7 Prozent zugelegt. Auch in Deutschland stiegen aufgrund rückläufiger Preise seit Beginn des Jahres 2015 die Reallöhne deutlich.12SCHULTEN, Thorsten (2016): Europäischer Tarifbericht des WSI – 2015/2016, WSI-Mitteilungen 8/2016. Doch durch die niedrige Entwicklung des Reallohns in den letzten Jahren sind drastischere Lohnsteigerungen nötig und nicht nur Lohnabschlüsse von ein bis zwei Prozent. So wird weiterhin die gesamtwirtschaftliche Nachfrage systematisch eingeschränkt. Ohne deutlich höhere Löhne bleiben Impulse für die Binnennachfrage aus, die Preissteigerung schwach und die Arbeitslosigkeit weiterhin hoch.

Mehr soziale Gerechtigkeit dank Martin Schulz?

„Wohlstand für alle“, das Credo der sozialen Marktwirtschaft gilt also nicht mehr. Auf die Frage der SPIEGEL-Journalisten, ob Deutschland ein gerechtes Land sei, antwortete der designierte Kanzlerkandidat der SPD Martin Schulz dann auch folgerichtig:

„Nein. Deutschland ist kein gerechtes Land. Millionen Menschen fühlen, dass es in diesem Staat nicht gerecht zugeht. Unternehmensgewinne und Bonuszahlungen haben zugenommen wie die Zahl prekärer Arbeitsverhältnisse.“13SCHULZ, Martin im DER SPIEGEL 2017/6.

Ein bisschen verwundert diese Aussage schon, denn von den letzten 19 Jahren war die SPD insgesamt in 15 Jahren an der Bundesregierung beteiligt. Natürlich muss insbesondere ein Juniorpartner in einer Großen Koalition gewisse Zugeständnisse machen und kann seine eigene parteipolitische Agenda nicht komplett durchsetzen. Ausgerechnet die SPD unter Bundeskanzler Gerhard Schröder war es jedoch, die mit der Arbeitsmarktreform den Leiharbeitssektor massiv ausgebaut hat. Zudem bedeutete die auch mit der Agenda 2010 angestoßene Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II signifikante Einkommenseinbußen für mehr als die Hälfte der Betroffenen14NELLER, Marc: Rot-Grün – Die Privatisierer, Die Zeit vom 26. Oktober 2010.:

„Die Agenda 2010, (…) das sind gesenkte Lohnnebenkosten, liberalisierte Zeitarbeit, Minijobs, Privatrente. Das sind zehn Euro Praxisgebühr und das Herzstück der Reform: Hartz IV, die Verschmelzung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem niedrigen Niveau der Sozialhilfe.“

Auch die Senkung des Einkommens- und Spitzensteuersatzes in der Einkommenssteuer auf ihr heutiges Niveau ist auf die Steuerreform der rot-grünen Bundesregierung des Jahres 2000 zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund verwundert der regelrechte Hype um den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schutz, da er sich bis jetzt außer anbiedernder Wohlfühl-Phrasen inhaltlich kaum positioniert hat. Aber auch die letzten Kanzlerkandidaten haben sich im Wahlkampf dem Standardrefrain der SPD bedient, wie ein amüsanter Vergleich zeigt:

  • Martin Schulz (2017): „Wenn ein Konzernchef verheerende Fehlentscheidungen trifft, dann noch Millionen an Boni kassiert – eine Verkäuferin dagegen für eine kleine Verfehlung rausgeschmissen wird, dann geht es nicht gerecht im Lande zu.“15SCHULZ, Martin (2017): Rede bei der Vorstellung des SPD-Kanzlerkandidaten am 29.01.2017, online auf spd.de.
  • Peer Steinbrück (2013): „Während eine Kassiererin wegen einer Pfandmarke von 50 Cent ihren Job verlieren kann, bleiben Millionen schwerer Steuerbetrüger in der Anonymität, werden gar nicht erst erkannt oder kommen mit einer Nachzahlung davon.“16STEINBRÜCK, Peer (2013): Gerechtigkeit ist eine Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg. Rede zum SPD-Antrag „Deutschland 2020: gerecht und solidarisch“ am 25.04.2013, online auf spdfraktion.de.
  • Frank-Walter Steinmeier (2009): „Wie kann es sein, dass eine Kassiererin im Supermarkt wegen zwei Pfandbons von 1,30 Euro ihren Job verliert und die, die Milliarden versenkt haben und ihr Unternehmen und die Weltwirtschaft in den Abgrund gerissen haben, auch noch was oben drauf kriegen?“17STEINMEIER, Frank-Walter (2009): Rede des Kanzlerkandidaten auf dem Parteikonvent 2009 in Berlin, online auf spd.de.

Recht haben sie ja alle. Aber die Politik, die die SPD im Bund vertritt, spiegelt dies bis auf ein paar kleinere Korrekturen an der Agenda 2010 (s. Mindestlohn, Rente mit 63) nicht wieder. Dabei hätten die Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag ein progressives Bündnis aus SPD, Linkspartei und den Grünen schon längst ermöglicht. Letztlich ist es allerdings nicht zielführend, die Kandidatur von Martin Schulz als Mogelpackung zu entlarven. Die SPD muss nun ihr Mantra der Chancengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit mit Inhalten füllen. Denn die kommende Bundestagswahl ist keine Personenwahl, sondern eine Richtungswahl: Es geht im Kern darum, die sozialen und rechtsstaatlichen Grundwerte der Demokratie zu verteidigen.

Das führt mich zum Anfang dieses Artikels: Wie gezeigt wurde in Deutschland unter dem Zeichen der Alternativlosigkeit schon lange keine progressive Politik mehr gemacht. Die Große Koalition und Schröders Agenda-Politik hatten eine verherrende Wirkung auf den sozialen Zusammenhalt in Deutschland und Europa. Die SPD tut folglich gut daran, sich vom neoliberalen Denken endlich zu verabschieden. Wenn mithin einige Kommentatoren linksliberalen Kräften eine Mitschuld am Aufschwung des Rechtspopulismus zuschieben wollen, zeigt sich allein ein gut eingeübter Reflex, der vom verzweifelten Aufbäumen neoliberaler Eliten zeugt. Noch haben Martin Schulz und die SPD Zeit, ihren schönen Worten über soziale Gerechtigkeit auch ein entsprechendes Wahlprogramm folgen zu lassen, um einen nachhaltigen Politikwechsel zu gestalten. Aber sie müssen liefern!

Referenzen

Referenzen
1 MONATH, Hans (2016): Political Correctness: Der Hochmut der Vernünftigen. Der Tagesspiegel vom 11. Dezember 2016; online im Internet.
2 MERKEL, Angela (2016): Regierungserklärung vom 23. November 2016; online im Internet.
3 GOEBEL, Jan; GRABKA, Markus M.; SCHRÖDER, Carsten (2015): Income Inequality Remains High in Germany. Young Singles and Career Entrants increasingly at Risk of Poverty,  Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsförderung.
4 BURKHARD, Christoph; GRABKA, Markus M.; GROH-SAMBERG, Oliver; LOTT, Yvonne; MAU, Steffen (2013): Mittelschicht unter Druck? Gütersloh: Bertelsmann Verlag.
5 PIKETTY, Thomas (2014): Capital in the Twenty-First Century, München: Beck.
6 EUROPEAN CENTRAL BANK (2016): The Household Finance and Consumption Survey: Results from the Second Wave, No. 18.
7 FRATSCHER, Marcel (2017): Wer wenig verdient, kann wenig sparen, online in der Zeit vom 06. Januar 2017.
8 BACH, Stefan: Vermögenbesteuerung in Deutschland: Eine Ausweitung trifft nicht nur Reiche, DIW Wochenbericht Nr. 30/2009 vom 22. Juli 2009.
9 Eine solche Vermögenssteuer wird in der Bundesrepublik seit dem Jahr 1997 nicht mehr erhoben.
10 SEILS, Eric (2016): Jugend & befristete Beschäftigung. Eine Auswertung auf der Basis aktueller Daten des Mikrozensus, WSI der Hans-Böckler-Stiftung.
11 WSI-MITTEILUNGEN (2017): Vier von zehn arbeiten atypisch, Böckler Impuls 02/2017.
12 SCHULTEN, Thorsten (2016): Europäischer Tarifbericht des WSI – 2015/2016, WSI-Mitteilungen 8/2016.
13 SCHULZ, Martin im DER SPIEGEL 2017/6.
14 NELLER, Marc: Rot-Grün – Die Privatisierer, Die Zeit vom 26. Oktober 2010.
15 SCHULZ, Martin (2017): Rede bei der Vorstellung des SPD-Kanzlerkandidaten am 29.01.2017, online auf spd.de.
16 STEINBRÜCK, Peer (2013): Gerechtigkeit ist eine Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg. Rede zum SPD-Antrag „Deutschland 2020: gerecht und solidarisch“ am 25.04.2013, online auf spdfraktion.de.
17 STEINMEIER, Frank-Walter (2009): Rede des Kanzlerkandidaten auf dem Parteikonvent 2009 in Berlin, online auf spd.de.

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